Fabio Longo: Vorrang für heimische Energiequellen „Wir brauchen Trittin und Scheer, aber auch Clement und Stolpe!“
29. März 2004
Der Kommunalpolitiker Fabio Longo, Initiator des Vellmarer Städtebaulichen Solarvertrags, plädiert für den Vorrang heimischer Energiequellen in der nationalen Energiepolitik. Auch als eine Antwort auf die Globalisierung fordert der Sozialdemokrat, alle lokalen und regionalen Kräfte zu stärken – für Klimaschutz und Arbeitsplätze. "Dazu brauchen wir Trittin und Scheer, aber auch Clement und Stolpe", so Fabio Longo (SPD).In diesen Tagen stehen wichtige Entscheidungen in der Energiepolitik an, so wichtige wie schon lange nicht mehr. Wenn die Prinzipien stimmen, werden die einzelnen Entscheidungen Deutschland voran bringen – sowohl im Klimaschutz als auch bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Dies sind die beiden wichtigsten Gradmesser für die Lösung aktueller Probleme. Das ideale Instrument, um beiden Zielen gerecht zu werden, ist die Förderung erneuerbarer Energien. Aber wer allein darauf setzt, schiebt die Wirklichkeit zur Seite. Die "solare Vollversorgung" ist zwar möglich, und die Bundesregierung sollte sich dieses Ziel auf die Fahnen schreiben. Aber auch eine noch so beherzte Sonnenstrategie wird nicht vor der Mitte des Jahrhunderts umfassend erfolgreich sein. Die nationale Energiepolitik muss sich daher darüber verständigen, auf welche Energieträger gesetzt wird – neben dem ständig steigenden Anteil erneuerbarer Energien. Atomstrom wird nach 2025 keine Rolle mehr spielen. Im Laufe der 20er Jahre wird laut Atomkonsens das letzte deutsche Kernkraftwerk vom Netz gehen. Wenn der Emissionshandel und das Erneuerbare-Energien-Gesetz zu effektiven Instrumenten der Energiepolitik ausgebaut werden, kann der atomare Stromausfall bis 2025 vollständig durch Energieeinsparung und Erneuerbare Energien kompensiert werden. Hier braucht Deutschland viel Trittin und viel Scheer!
Die Stromwende erst ab den 20er Jahren
Es wäre absurd, den Ausstieg aus der Atomenergie durch den Ausbau fossiler Energien zu kompensieren. Klimaschutz und Atomausstieg müssen in Einklang gebracht werden, und gleichzeitig müssen die Arbeitsplätze in Deutschland gehalten und ausgebaut werden. Das ist eine Herkulesaufgabe, aber sie ist zu bewältigen – auch unter den Bedingungen der Globalisierung und eines europäischen Energiemarktes.
Die Politik würde den Strombereich wirtschaftlich überfordern, wenn der Ausstieg aus der fossilen Stromwirtschaft gleichzeitig mit dem Atomausstieg und in der gleichen Konsequenz betrieben würde. Hiermit kann Deutschland erst richtig in den 20er Jahren beginnen. Bis dahin werden die meisten Techniken zur Stromproduktion aus erneuerbaren Energiequellen auch ohne die Förderung durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz konkurrenzfähig sein. Aber bis dahin sollte Deutschland auf die heimische Kohle nicht verzichten. Außer in den Kohlerevieren im Saarland und in Nordrhein-Westfalen ist die Forderung populär, die horrenden Kohlesubventionen schnell herunter zu fahren. Gerade von CDU und FDP wird sie zuweilen populistisch eingesetzt. Aber bis 2025 gibt es keine heimische Alternative zur Steinkohle und auch nicht zur Braunkohle. Wer möchte verantworten, dass Deutschland seine Exportabhängigkeit gegenüber unsicheren Weltregionen erhöht und damit heimische Wertschöpfung verringert und Arbeitsplätze vernichtet?
Bis 2025 gleicht die Alternative zur deutschen Stein- und Braunkohle einem Horrorkatalog: Erdöl, vor allem aus dem Nahen Osten (britisches und norwegisches Öl gehen langsam zur Neige), Erdgas, vor allem aus Russland (wo sich die Energiemagnaten als Staat im Staate aufführen) und Steinkohle aus Übersee (unsinniger geht es nicht). Die deutsche Energiepolitik würde einen schweren Fehler machen, überstürzt aus der Förderung der deutschen Steinkohle auszusteigen. Hier braucht Deutschland Clement!
Clement gegen alle?
Der Superminister für Wirtschaft und Arbeit ist kein Gegner der erneuerbaren Energien. Als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen war er stolz auf den Photovoltaik-Standort Gelsenkirchen. Seine rot-grüne Koalition hat den solaren Städtebau wie sonst nirgendwo gefördert, etwa mit dem Landesprogramm "50 Solarsiedlungen". Und Clement hat mitgeholfen, NRW als Region der Zukunftsenergien zu positionieren. Er steht allerdings wie alle seine Vorgänger im Wirtschaftsressort für den Erhalt der traditionellen Energiewirtschaft, also für Mega-Kraftwerke im Verbundsystem, die ordentlich Gewinn abwerfen. Das unterscheidet ihn von Hermann Scheer, dem profiliertesten Energiepolitiker in der SPD-Bundestagsfraktion, der die Teilhabe der Bürger an der Energieerzeugung ausweiten und steigern will. Er fordert, dass "aus dem Reichtum weniger ein Reichtum aller" werden soll, "gerechter und breiter verteilt". Dies erfordert zumindest, die Energiewirtschaft zu rekommunalisieren. Ein Ziel, das in Zeiten der Großfusionen in der Energiewirtschaft und dem Ausverkauf von Stadtwerken in weite Ferne gerückt zu sein scheint.
Ziel der rot-grünen Bundesregierung kann nur sein, die lokalen und regionalen Kräfte zu stärken. Mit heimischen erneuerbaren Energiequellen können auch strukturschwache Regionen neue Wirtschaftszweige begründen und neue Arbeitsplätze schaffen – vom Solarhandwerk bis hin zur Land- und Forstwirtschaft. Eine Politik, die dieses Ziel konsequent verfolgt, wird langfristig auf Grundlast-Kraftwerke zur Stützung eines Verbundsystems verzichten können. Regionale Stromnetze, aus vielen Klein-Kraftwerken gespeist, werden dann völlig ausreichen, um die Stromversorgung sicher zu stellen. Betrieben werden diese Klein-Kraftwerke mit heimischen Ressourcen, wie Holz, Stroh, Pflanzenöl, Wind, Wasser und der direkten Kraft der Sonne.
Kohle für den Übergang
Um die skizzierte Energiewende zu schaffen, braucht die Politik einen langen Atem. Bis 2025 wird das Verbundnetz auf jeden Fall Realität bleiben. Das Abschalten der Atomkraftwerke bietet zwar eine Chance, die Kapazitäten im Verbund zu verringern, und die regionalen Netze mit mehr Klein-Kraftwerken zu stärken. Da bis 2020 aber neben den Atomkraftwerken auch große Fossilkraftwerke den Geist aufgeben werden, wird Deutschland ohne einen gemäßigten Zubau neuer Fossilkraftwerke nicht auskommen. Als Energieträger sollte die Stein- und Braunkohle eingesetzt werden. Sie bietet Energiesicherheit und erhält Arbeitsplätze in deutschen Bergbauregionen. Die Subventionen für den Steinkohlebergbau sollten schrittweise in dem Maße reduziert werden, wie ein beschleunigter Aufwuchs bei den Erneuerbaren und steigende Energieeffizienz die Verluste ausgleichen.
Die Chance: Wärmewende jetzt!
Was im Strombereich erst in den 20er Jahren im großen Stil begonnen werden kann, ist für den Wärmebereich schon heute möglich: der Umstieg von fossil auf solar. Hier braucht Deutschland Stolpe und Trittin! Beide können an Klaus Töpfer anknüpfen, den ehemaligen Umwelt- und Städtebauminister (Link zu Töpfer-Artikel in der Rubrik "Akteure"). Seine Vorleistungen sind ausbaufähig und in einem Gesamtkonzept umzusetzen. Solarer Städtebau und Baupflichten für Sonnenkollektoren bei Neubauten und bei der Altbausanierung sind das Programm für Klimaschutz und Arbeitsplätze – mit einem großen Gewinn für die gesamte Volkswirtschaft. Die Rechnung ist ganz einfach: Finanzmittel der Eigenheimbesitzer, die sie "früher" für Erdöl aus dem Nahen Osten ausgegeben haben, fließen heute in die Installation thermischer Solaranlagen, woran das örtliche Handwerk und deutsche Hersteller verdienen. Doch diese Entwicklung kommt nicht von selbst. Die erneuerbaren Energien fristen heute immer noch ein Schattendasein im Wärmemarkt. Heizöl und Erdgas sind die dominierenden Energieträger. Daran ändern auch die beachtlichen Erfolge des Marktanreizprogramms des Bundesumweltministeriums (BMU) und die Informationskampagnen der Deutschen Energieagentur (dena) noch immer zu wenig. Solarenergie muss – wie Dämmung und Isolierverglasung – zum Standard des Bauens in Deutschland werden. Hierzu bedarf es zunächst einer Reform des Baugesetzbuches, die den Spielraum der Kommunen für den Solaren Städtebau weiter erhöht. Und einer Novelle der Energieeinsparverordnung mit bundesweiter Solar-Pflicht, im Zuge der Umsetzung der EU-Gebäuderichtlinie bis 2006.
Energiekonsens "Clement-Trittin-Stolpe"
Wie kann ein Energiekonsens zwischen Clement und Trittin im aktuellen Streit um den Emissionshandel aussehen? Die rot-grüne Regierung wäre am Ende, würde der Emissionshandel den Ausstoß von Treibhausgasen steigern. Der Emissionshandel ist kein Selbstzweck und macht nur Sinn, wenn er dem Klimaschutz nützt. Die dafür erforderliche Bürokratie könnte sich Deutschland schenken, wenn der Zertifikatehandel zu einem großen "Gesellschaftsspiel" verkommen würde. Es führt also kein Weg daran vorbei, den Emissionshandel so auszugestalten, wie es das BMU vorgeschlagen hat. Vielleicht muss Trittin die eine oder andere Tonne CO2-Emissionsrechte draufsatteln. Das Ziel der CO2-Reduktion muss aber bleiben. Im Gegenzug könnte Trittin auf seine Forderung nach einer Förderung von großen Erdgas-Kraftwerken verzichten und Konzessionen an die heimische Steinkohle machen. Die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist nur theoretisch Verhandlungssache zwischen den Ministern Clement und Trittin: Das EEG ist ein Projekt der Koalitionsfraktionen. Hermann Scheer (SPD) und Hans-Josef Fell (Grüne) werden alles dafür tun, dass es dabei bleibt. Wenn der Städtebauminister Manfred Stolpe es dann noch schafft, die Solare-Städtebau-Reform des Baugesetzbuches voran zu bringen, könnte Rot-Grün einen Energiekonsens vorweisen, der zugleich volkswirtschaftlich vernünftig und ökologisch verantwortlich ist.
Weitere Informationen zum Thema "Solar-Pflicht":
– Die "Ordenanca Solar" finden Sie in deutscher Übersetzung auf den Internetseiten der Energieagentur von Barcelona unter www.barcelonaenergia.com
– Ein Muster des Städtebaulichen Vertrags der Kommune Vellmar kann hier heruntergeladen werden
– Fördern und fordern: Hessische Stadt Vellmar verwirklicht neues städtebauliches Solar-Konzept
– Viele Kommunen in Deutschland sind reif für Solarverträge und eine Solaranlagenverordnung. Fabio Longo über den "Vellmarer Weg" zu einer Solar-Pflicht für Neubauten