Schottland sucht die Unabhängigkeit

Solarthemen 428. Schottland stimmt im September über seine Autonomie ab. Ungeachtet des Ausgangs des Referendums will das Land schon in sechs Jahren 100 Prozent seines Strombedarfs aus heimischen erneuerbaren Energien decken. (Foto und Text: Bernward Janzing)

Am 18. September blickt ganz Europa nach Schottland. An diesem Tag nämlich entscheiden die Bürger im Norden Großbritanniens in einem Referendum über ihre Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich. Während der Ausgang der Abstimmung als offen gilt, ist eines schon lange sicher: Energiepolitisch ticken die Schotten anders als die britische Zentralregierung in London. 100 Prozent EE-Strom bis 2020 Im Norden nämlich ist man deutlich fortschrittlicher. Bereits im kommenden Jahr will Schottland die Hälfte seines Stroms aus erneuerbaren Energien decken – ein Ziel, das kaum noch zu verfehlen ist, weil der Anteil im Jahr 2013 bereits bei 46,5 Prozent lag. Und im Jahr 2020 will Schotland sogar 100 Prozent seines Strombedarfs aus heimischen regenerativen Energien decken. „Die erneuerbaren Energien sind ein zentrales Element unserer Strategie für ein erfolgreiches Schottland“, sagt Energieminister Fergus Ewing. Das 100-Prozent-Ziel bis in nur sechs Jahren ist zwar ambitioniert, aber nicht unrealistisch: In den vergangenen fünf Jahren konnte Schottland den Anteil der Erneuerbaren im Schnitt um annähernd fünf Prozentpunkte pro Jahr steigern. Von den 13 Terawattstunden, die im Jahr 2013 aus erneuerbaren Energien erzeugt wurden, stammte der größte Teil (11,1 Terawattstunden) aus Windkraft, gefolgt von der Wasserkraft (4,4 Terawattstunden). Wärme hinkt hinterher 4,5 Gigawatt Windkraft waren in Schottland Ende 2013 an Land installiert sowie 190 Megawatt auf See. Damit stehen rund 45 Prozent der Windkraftanlagen Großbritanniens in Schottland bei einem Flächenanteil von einem Drittel. Die Wasserkraftanlagen summieren sich auf 1,5 Gigawatt, die Photovoltaik auf 116 Megawatt. Langsamer voran geht es bei der Wärme, für die ein Ziel von gerade mal 11 Prozent aus erneuerbaren Quellen für 2020 definiert wurde. Der Schwenk zu den Erneuerbaren in Schottland ist auch der nüchternen Erkenntnis geschuldet, dass die Region wirtschaftliche Perspektiven für die Zeit nach dem Nordseeöl braucht. Heute ist Aberdeen an der schottischen Ostküste noch die Ölhauptstadt Europas. Die Universitätsstadt ist für die Bohrinseln in der Nordsee seit vier Jahrzehnten der Dreh- und Angelpunkt. Doch ihre Bedeutung schwindet: In den 1990er Jahren überschritten die Ölfelder zwischen Großbritannien und Norwegen ihr Fördermaximum, seither geht es mit den Mengen steil bergab. Da müssen rechtzeitig Alternativen her. Und auch deswegen arbeiten heute in Schottland schon 11700 Menschen in der Erneuerbare-Energien-Branche. Atomausstieg Aber das Land will nicht nur die Nutzung erneuerbarer Energien erheblich ausbauen, es will parallel auch weg von der Atomkraft. Das Ende der Kernspaltung im eigenen Land wurde schon Jahre vor der Fukushima-Katastrophe ins Regierungsprogramm geschrieben. Noch laufen hier vier Blöcke: die beiden Reaktoren Hunterston B nahe Glasgow und die zwei Blöcke Torness nahe Edinburgh. Hunterston soll 2016 vom Netz gehen, Torness im Jahr 2023. Neubauten, soviel ist für die schottische Regierung in Edinburgh klar, wird es nicht mehr geben. Auch in diesem Punkt herrscht in der schottischen Hauptstadt eine andere Einstellung als in London: Die britische Zentralregierung plant derzeit, ein neues Atomkraftwerk zu bauen und dieses sogar über ausgesprochen üppige Einspeisevergütungen zu finanzieren. Am Standort Hinkley Point an der Südwestküste Englands will das Königreich durch die französische EdF zwei Reaktorblöcke mit jeweils 1600 Megawatt bauen lassen. Weil sich die Meiler aber am Strommarkt niemals refinanzieren lassen, will der Staat ihnen eine Vergütung in Höhe von umgerechnet knapp 11 Cent je Kilowattstunde garantieren. Ingenieur-Tradition Die schottische Regierung unterdessen betont, dass in Schottland neue Kernkraftwerke weder gewollt noch benötigt würden. Vor allem, weil es „keine klare, verlässliche Aussage über die Lagerung von Atommüll“ gebe. Schottland sei „nicht bereit, solche hohen Kosten für diese und zukünftige Generationen zu tolerieren“, erklärte die schottische Regierung bereits 2007 gegenüber London. Sie sei „davon überzeugt, dass Schottland über die Ressourcen und Fähigkeiten verfügt, eine saubere, kohlenstoffarme Energieversorgung zu entwickeln“. Die große Tradition in den Ingenieur- und Naturwissenschaften gibt dem Land Selbstbewusstsein; hier lebten Forscher und Entdecker wie etwa James Watt und Lord Kelvin, Alexander Graham Bell und James Clerk Maxwell. Allerdings ergibt sich aus den Zielen Schottlands ein scheinbarer Widerspruch: Einerseits werden die beiden Atomreaktoren in Torness mit zusammen 1364 Megawatt Leistung voraussichtlich noch bis 2023 laufen. Andererseits spricht Schottland von 100 Prozent Erneuerbaren im Stromsektor bereits im Jahr 2020. Und doch geht bei genauer Betrachtung beides zusammen. Das liegt schlicht daran, dass Schottland seit Jahren in großem Stil Strom exportiert: In den Jahren 2000 bis 2010 wurden jährlich zwischen 14 und 24 Prozent der Erzeugung exportiert. Im Jahr 2012 lag der Exportüberschuss sogar bei fast 13 Terawattstunden, das waren 26 Prozent des erzeugten Stroms. Deswegen hat Schottland sein 100-Prozent-Ziel stets auf den eigenen Stromverbrauch, nicht auf die erzeugte Strommenge bezogen. Und es geht auch vorerst nur um eine bilanzielle Vollversorgung. So werden wohl auch 2020 noch Kohle- und Gaskraftwerke in Schottland in Betrieb sein und für Regelenergie sorgen. Im Jahr 2012 kamen noch 25 Prozent der in Schottland erzeugten Kilowattstunden aus Kohle, 9 Prozent aus Gas und Öl sowie 34 Prozent aus Atomkraft. Da der Ausbau der erneuerbaren Energien aber in Schottland weiterhin schneller voran schreiten dürfte, als alte Großkraftwerke stillgelegt werden, wird Schottlands Stromexport wohl weiter steigen. Unterdessen wird in diesen Monaten der politische Kampf um die Stimmen der Bürger beim Referendum hart geführt. Und so wies das britische Department of Energy and Climate Change bereits darauf hin, dass sich das Vereinigte Königreich nicht verpflichtet sehe, Energie von einem unabhängigen schottischen Staat zu kaufen. Der britische Energiemarkt könne dann nicht wie bisher fortbestehen und Schottland werde auch keine Förderung für die erneuerbaren Energien mehr erhalten. Schottlands Energieminister Ewing konterte daraufhin: „England wird die schottische Energie brauchen, damit die Lichter nicht ausgehen.“ Wellenkraft nutzen Das Selbstbewusstsein der Schotten kommt nicht von ungefähr. Sie haben viel Landfläche, und außerdem ist die Region prädestiniert für die Nutzung der Meeresenergie. Die Stürme sind hier mitunter heftig, ungestört können sich die Wellen über Tausende von Kilometern über dem Atlantik aufbauen. Im vergangenen Jahr wurden vor den Orkney-Inseln Wellen von 19 Meter Höhe gemessen. Eines Tages soll deswegen auch die Wellenkraft einen substantiellen Beitrag zur Stromversorgung leisten. Daher wurde in Stromness auf den Orkney-Inseln im Jahre 2003 das European Marine Energy Centre (Emec) gegründet, auf dessen Testfeld im Nordatlantik Firmen ihre Entwicklungen in der Praxis analysieren können. Auch wenn noch unklar ist, ob die Wellenkraft die Offshore-Windkraft eines Tages preislich wird unterbieten können, so ist immerhin ein Vorteil der Wellenkraft sicher: Die Wellen reagieren nur träge auf plötzlichen Wetterumschwung, die Stromerträge sind damit noch deutlich besser vorherzusagen als bei der Windkraft. Bei der gesamten Energiewende in Schottland soll es aber nicht nur um umweltfreundliche Energie gehen, sondern auch um den Aufbau dezentraler Strukturen. 500 Megawatt an Erzeugungskapazitäten sollen im Jahr 2020 im Besitz der Gemeinden und der örtlichen Bevölkerung sein. Auch das hat die Regierung als Ziel vorgegeben. Mekka der Kleinwindanlagen Und so machen auch die Bürger längst mit beim Umbau der Stromwirtschaft. Vor allem auf den Inseln sind Kleinwindkraftanlagen mit zum Teil nur wenigen Kilowatt Leistung sehr populär. Schottlandweit sind aktuell gut 26 Megawatt an Kleinwindkraftanlagen installiert, wozu hier Anlagen bis 100 Kilowatt zählen. Ein Drittel der Leistung entfällt sogar auf Kleinstanlagen unter 15 Kilowatt. Auf den Orkney-Inseln prägen sie schon das Landschaftsbild. „Die Hälfte aller Familien auf Orkney macht bereits eigenen Strom“, sagt Emec-Leiter Neil Kermode, „jede achte britische Kleinwindkraftanlage steht heute auf Orkney“. Und ein Teil davon wird auf den landwirtschaftlichen Gehöften sogar netzautark betrieben. Offenkundig steht die Unabhäng­igkeit bei den Schotten in jeder Hinsicht hoch im Kurs. Bernward Janzing

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