Hans-Josef Fell: Teile der Grünen wollen das 100 %-Erneuerbare-Energien-Ziel massiv abschwächen

Auf der kommenden Bundesdelegierten-Konferenz von Bündnis 90/Die Grünen bahne sich ein Machtkampf an zwischen den „ökologischen Bremsern“ und den Befürwortern einer schnellen Transformation des Energiesystems hin zu 100 % Erneuerbare Energien, berichtet Hans-Josef Fell, Präsident der Energy Watch Group (EWG) und Autor des EEG 2000.

2007 hatte Fell auf dem Parteitag der Grünen gegen viele Widerstände aus der Berliner Grünen-Spitze, aber mit großer Unterstützung der Basis einen Antrag durchgebracht, wonach sich die Grünen klar zu einem schnellen Ausbau der Erneuerbaren Energien bekennen. Bis 2030 strebten die Grünen seitdem im Stromsektor und bis 2040 auch in allen andern Energiesektoren in Deutschland und der EU eine hundertprozentige Versorgung mit Erneuerbaren Energien an.
Viele Grüne Akteure waren, vor allem an der kommunalen Basis, treibende Kräfte dafür, dass insbesondere im Stromsektor dieses Ziel in erreichbare Nähe gerückt ist, betont Fell.

100 % Ökostrom bis 2030 möglich
So konnte der Anteil des Ökostroms in Deutschland dank EEG von 12 % im Jahr 2006 auf 32 % Mitte 2015 gesteigert werden. Mit der Fortschreibung dieser exponentiellen Wachstumskurve ergäben sich tatsächlich rund 100 % Ökostrom bis 2030, so Fell.
Doch in den letzten Jahren habe es auch in der Grünen-Partei nicht nur Freunde des schnellen Ausbaus der Erneuerbaren Energien gegeben. Insbesondere die treibende Kraft – die bürgerliche Energiewende – sei mit immer mehr Maßnahmen der Bundesregierungen von Merkel/Rösler und Merkel/Gabriel massiv unter Druck gesetzt worden. Entscheidende Verschlechterungen der Förderbedingungen seien zum Teil auch von grünen Entscheidern mitgetragen worden, vielfach gegen den Protest vieler grüner Parteimitglieder.

EEG-Umlage auf die Ökostromerzeugung auch von grünem Parteimitglied vorgeschlagen
Insbesondere die Erhebung der EEG-Umlage auf die Ökostromerzeugung sei ursprünglich von dem erst 2012 gegründeten neuen Wissenschaftsinstitut Agora Energiewende und seinem damaligen Chef Rainer Baake, ehemals Staatssekretär bei Jürgen Trittin und grünes Parteimitglied, vorgeschlagen worden.
Einige grüne Länderminister hätten verschiedene Agora-Vorschläge zur Verschlechterung der Ausbaudynamik befürwortet und unterstützt, insbesondere die EEG-Umlageerhebung auf den Ökostrom, die mehr und mehr der Bürgerenergie das Genick breche.
Als zuständiger Staatssekretär bei Energieminister Gabriel habe nun mit Rainer Baake ausgerechnet ein grünes Parteimitglied diesen schweren Schlag gegen die Ökostrom-Eigenerzeugung mit zu verantworten.

Viel zu schwache Ausbauziele im EEG 2014 verankert
„Auch die viel zu schwachen Ausbauziele insbesondere für Solar, Bioenergie, Wasserkraft und Erdwärme wurden unter der Federführung des Staatsekretärs Baake im EEG 2014 verankert. Schlimmer noch: Der Systemwechsel von der erfolgreichen Einspeisevergütung hin zu völlig untauglichen Ausschreibungen, die nur den Ausbau der Erneuerbaren Energien verteuern, verlangsamen und endgültig in die Hände der Stromkonzerne statt der Bürger legt, wird ausgerechnet von einem grünen Staatssekretär in einer schwarz- roten Koalition in Berlin organisiert“, kritisiert Fell.
„Es ist schon sehr verwunderlich, dass es keine Diskussion, keine Proteste darüber bei Bündnis 90/Die Grünen gibt, dass ausgerechnet ein Parteimitglied den größten politischen Erfolg der Grünen, das EEG und den Ausbau der Erneuerbaren Energien unter rot-grün, torpediert.“
Dabei seien die Wirkungen schon jetzt verheerend: Die Dynamik der Neugründungen von Bürgerenergiegemeinschaften sei längst eingebrochen. Der Ausbau bei der Solarenergie dümple auf niedrigem Niveau dahin, der Ausbau bei Bioenergien, Wasserkraft und Erdwärme sei fast völlig zum Erliegen gekommen.

Fast völliger Verlust der Solarindustrie-Produktion in Deutschland
„Verlust von über 70.000 Arbeitsplätzen, hunderte von Insolvenzen vor allem von kleinen und mittleren Unternehmen und den fast völligen Verlust der Solarindustrieproduktion in Deutschland hat diese Politik seit der Regierung Merkel/Rösler schon gefordert. Mit dem Umsetzen der Ausschreibungen bei der Windkraft droht nun das Gleiche in der Windbranche. Jeder weiß es, doch diese Bundesregierung setzt ausgerechnet mit einem zuständigen grünen Staatssekretär die weiteren Verschlechterungen der politischen Rahmenbedingungen für Erneuerbare Energien erbarmungslos durch“, so Fell.
Der Bundesvorstand der Grünen strebe dennoch weiterhin mit seinem Leitantrag „ÄNDERN WIR DIE POLITIK, NICHT DAS KLIMA!“ auf dem kommenden Parteitag das Ziel der 100 %igen Versorgung mit Ökostrom bis 2030 an.
„Eine völlig richtige Strategie, denn auch in den nächsten Jahren kann viel politisch Positives für die Erneuerbaren Energien beschlossen werden und zunehmend bekommen die Erneuerbaren Energien in weiten Teilen der Welt Aufwind, schlicht weil sie inzwischen die günstigste Art der Stromerzeugung sind und sowieso zur Lösung der sich verschärfenden Probleme der Erderwärmung unverzichtbar sind“, betont Fell.
Doch auf dem nächsten Bundesparteitag gebe es den Änderungsantrag GW-KS-02-210 von Robert Habeck und einer Gruppe führender, Verantwortung tragender Parteimitglieder, das Ziel 100 % Erneuerbare Energien auf 2050 zu verschieben. Nicht anders könne die dort vorgelegte Formulierung interpretiert werden: „Nur so schaffen wir es, bis Mitte dieses Jahrhunderts Deutschland weitgehend CO2-neutral zu entwickeln und binnen zwei Jahrzehnten aus der Kohle auszusteigen.“
„Unglaublich, diese Gruppe führender grüner Spitzenpolitiker will also weniger, statt mehr Klimaschutz. Sie wollen CO2 emittierende Kohle- und Erdgaskraftwerke länger als nötig am Netz halten. Sie wollen offensichtlich die Umstellung auf die Bürgerenergien verlangsamen, damit die Konzerne länger im Geschäft mit Kohle- und Erdgaskraftwerken bleiben“, stellt Fell fest.
Begründet werde dies vor allem mit der mutlosen Behauptung, die Umstellung scheine nicht mehr bis 2030 zu schaffen. Diese Mutlosigkeit habe auch bei den Grünen eine lange Tradition, so hatte der grüne Umweltminister Jürgen Trittin unter rot-grün das Ziel von 20 % Ökostrom bis 2020 ausgerufen.
„Heute 2015, also fünf Jahre früher, stehen wir schon bei 32 %. Statt Kraft und Mut aus diesem riesigen grünen Erfolg zu ziehen, halten es viele mit der Kanzlerin, die auf dem Jahrestag 2015 des Bundesverbands Erneuerbare Energien (BEE) sinngemäß sagte, dass sie sich auch gewundert habe, wie schnell der Ausbau der Erneuerbaren Energien möglich war – aber in Zukunft könne das nicht mehr so gehen.“
Wenn der Änderungsantrag tatsächlich eine Mehrheit bekommen sollte, verabschieden sich Bündnis 90/Die Grünen vom Selbstverständnis einer offensiven fortschrittlichen ökologischen Partei, warnt Fell.
„Die Parteiführung von Bündnis 90/Die Grünen braucht nun alle Unterstützung von der grünen Basis, um den Frontalangriff dieses Antrages auf die Grüne Führerschaft im Parteiensektor als Ökopartei abzuwehren und um einen weiteren Wählerverlust der hundertaussende Akteure der Bürgerenergiewende zu vermeiden. Sie alle kämpfen um eine schnelle Energietransformation vor Ort und würden nie verstehen, warum ausgerechnet nun sogar Bündnis 90/Die Grünen die Programmatik hin zu einer Verlangsamung des Umbaus der Energieversorgung befürwortet“, fasst Fell zusammen.

09.11.2015 | Quelle: Hans-Josef Fell; Präsident der Energy Watch Group (EWG) | solarserver.de © EEM Energy & Environment Media GmbH

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