Interview mit Hans-Martin Henning: Energiewende – ein Projekt wie die Wiedervereinigung

Prof. Dr. Hans-Martin Henning, Stellvertretender Institutsleiter und Geschäftsfeldkoordinator ûEnergieeffiziente Gebäudeë éFraunhofer ISE Prof. Hans-Martin Henning, Deputy Director and Business Area Coordinator for âÂÂEnergy Efficient Buildingsâ éFraunhofer ISE
Solarthemen 459. Prof. Dr. Hans-Martin Henning, stellvertretender Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) hat zusammen mit seinem Kollegen Andreas Palzer Szenarien einer kostenoptimierten Transformation des Energiesystems bis 2050 berechnet. Für die Studie entwickelten die Forscher ihr Simulationsprogramm REMod weiter. Es ermittelt den Energiemix, der zu jeder Stunde während der Umstellung Versorgungssicherheit zu den geringsten Kosten gewährleistet.

Solarthemen: Können Sie die Zukunft tatsächlich berechnen?

Hans-Martin Henning: Unser Modell bildet eine techno-ökonomisch optimierte Entwicklung ab. Es bildet nicht ab, wie Menschen tatsächlich handeln – und vielleicht anders handeln als es eine rein techno-ökonomische Rationalität nahelegt.

Schon vor zwei Jahren haben Sie gezeigt, wie ein kostenoptimiertes Energiesystem 2050 aussehen könnte. Was macht Ihr neues Projekt aus?

Im Unterschied zu dem, was wir schon vor zwei Jahren gemacht haben, optimieren wir jetzt den Weg, die Transformation des Energiesystems kostenmäßig. Wir haben uns dazu das Energiesystem Deutschlands im Jahr 2013 detailliert angesehen. Für alle Anlagen haben wir die Altersstruktur bestimmt, damit wir wissen, in welchem Jahr welche Anlagen im statistischen Mittel zum Austausch fällig werden. Wenn etwa ein Heizkessel aus dem Jahr 2013 im Jahr 2035 ausgetauscht wird, dann besteht die Option, ihn durch eine gleichartige Anlage zu ersetzen oder zum Beispiel durch eine elektrische Wärmepumpe. Ähnliches gilt für Windkraftanlagen, PV-Anlagen und viele weitere Komponenten. So kann man das System nach Kostengesichtspunkten optimieren.

Und wie beschreiben Sie das Ergebnis dieses Verfahrens?

Man sieht, wie sich Jahr für Jahr der Bestand entwickelt unter der Maßgabe, dass die CO2-Emissionen laufend abnehmen und die gesetzten politischen Zielwerte nicht übersteigen. Die Gesamttransformation ist kostenoptimiert in dem Sinne, dass die summarischen Kosten dieses Umbaus minimal werden.

Die Bundesregierung strebt mindestens 80 Prozent CO2-Reduktion bis 2050 an. Sie empfehlen ein Szenario mit 85 Prozent Reduktion. Warum?

Das politische Ziel der Bundesregierung ist eine Verminderung der Treibhausgasemissionen. Was wir betrachten, ist aber nur das energiebedingte CO2. Das sind etwa 85 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen. Viele Experten sagen, dass es zum Beispiel in der Landwirtschaft schwierig werden wird zu einer entsprechend hohen Reduktion zu kommen. Deshalb müsse der Energiebereich mehr tun. Wir haben bei unserer Untersuchung herausgefunden, dass 85 Prozent ein guter Zielwert wäre. Wir sehen nämlich eine Art Kipp-Punkt im System, wenn wir Richtung 90 Prozent gehen. Dann würden sehr große Mengen synthetischer Energieträger benötigt. Und dies bräuchte einen überproportionalen Anstieg von Solar- und Windinstallationen, um diese synthetischen Energieträger herzustellen.

Die 85 Prozent sind ein Kompromiss?

Genau. Es ist ein ambitioniertes Ziel, um Mengen aus anderen Sektoren zu kompensieren. Auf der anderen Seite wären 90, 95 oder gar 100 Prozent extrem ambitioniert, wenn wir keine großen Mengen an erneuerbaren Energien importieren. Mein Plädoyer wäre, aus sonnenreichen Gegenden Strom oder Wasserstoff zu importieren, um diese letzten 10 Prozent zu schaffen.

Bleiben wir also mal bei Ihrem 85-Prozent-Modell. Wie verteilt sich die Energieerzeugung im Jahr 2050, wenn man es kostenoptimiert angeht?

Unausweichlich sind dann Sonne und Wind die wichtigsten Erneuerbaren und auch die wichtigsten Energien insgesamt. Zugleich macht es auch Sinn, den Gebäudebereich ambitioniert zu sanieren, so dass man eine Verbrauchsreduktion auf etwa 50 Prozent des heutigen Raumwärmebedarfs erreicht. Hier wesentlich mehr anzustreben, wäre kostenmäßig ungünstig. Wollte man einen Passivhausstandard im Bestand erreichen, würde es teurer. Wir sehen außerdem, dass im Wärmebereich eine starke Elektrifizierung stattfindet. Insgesamt steigt der Strom­verbrauch um etwa 40 bis 50 Prozent. Im Verkehr haben wir angenommen, dass sich unser Mobilitätsverhalten nicht fundamental ändert. Bei den meisten Szenarien wurde von einem Mix der Antriebskonzepte ausgegangen. Aus Systemsicht würde auch hier ein höherer Stromanteil Vorteile bringen. Wir haben deshalb ein Szenario gerechnet, in dem sehr viel batteriebasierte Elektromobilität im Pkw-Bereich stattfindet. Das macht das System kostengünstiger und wir brauchen weniger Wind und Photovoltaik. Allerdings ist derzeit nicht absehbar, ob dies tatsächlich gelingt – selbst im Pkw-Bereich. Bekommt man die Batterien wirklich so kostengünstig und kompakt, dass man die heute gewohnten Reichweiten erreicht? Weil wir das nicht wirklich absehen können, haben wir mit einem Mix gearbeitet. Besonders den Lastverkehr kann man nur schwer elektrifizieren. Hier zeichnet sich eine Mischung ab aus zunächst noch fossilen, später biogenen und dann synthetischen Kraftstoffen, die aus erneuerbarem Strom hergestellt wurden.

Sehen Sie für andere Erneuerbare neben PV und Wind, etwa Biomasse, ein starkes Wachstum?

Die Biomasse spielt durchaus eine wichtige Rolle, weil sie flexibel einsetzbar ist. Aber wir haben die konservative Annahme getroffen, dass uns nicht sehr viel mehr Biomasse zur Verfügung steht als wir heute schon verwenden.

Was also kostet uns nun im Laufe der Jahre die Energiewende?

Bleiben fossile Energieträger langfristig so kostengünstig wie in unserem Basisjahr 2013 und findet keine Belastung mit CO2-Kosten statt, dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass der Umbau des Systems etwa 1,0 bis 1,1 Billionen Euro kostet. Das sind die Mehrkosten eines Klimaschutzsystems gegenüber einem Szenario, in dem wir nichts tun.

Klingt nach viel Geld. Können Sie die Zahl etwas greifbarer machen?

Dies entspricht etwa 0,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Oder vergleichen Sie es mit den Kosten der deutschen Einheit, wo Schätzungen im Bereich von 2 Billionen Euro kursieren. Die Energiewende ist ein ähnliches gesellschaftliches Projekt wie die Wiedervereinigung. Wenn sich eine Gesellschaft dafür entscheidet, solch einen Weg zu gehen und man danach erstens unabhängiger ist vom Weltgeschehen, was Energie betrifft, man zweitens Klimaschutz erreicht hat und man drittens erhebliche Geldmengen nicht mehr für Energieimporte ausgibt, sondern für Wertschöpfung im Land hält, dann haben diese Argumente Relevanz. Zumal wir in unsere Berechnung keine externen Kosten eingepreist haben.

Wodurch würde die Energiewende teurer und wodurch würde sie billiger?

So riesig sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Szenarien gar nicht. Klar ist, dass es teurer wird, wenn wir deutlich über das 85-Prozent-Ziel hinaus wollen. Daher stellt sich die Frage, ob man wirklich 100 Prozent Erneuerbare mit heimischen Ressourcen anstreben sollte. Allerdings ist das heute nicht die entscheidende Frage. Wichtig ist, sich entschieden auf den Weg zu machen.

Kostengünstiger wird die Energiewende laut Ihrer Studie durch einen forcierten Kohleausstieg bis zum Jahr 2040. Warum eigentlich?

Kohlestrom aus abgeschriebenen Braunkohlekraftwerken ist natürlich in der Herstellung extrem günstig. Aber wenn die Vorgabe lautet, die Klimaschutzziele auf jeden Fall einzuhalten, dann hat man die CO2-Mengen der Kohle-Verstromung nicht mehr an anderer Stelle zur Verfügung. Es ist kostengünstiger früher auszusteigen statt CO2 an anderer Stelle zu sparen.

Mir ist aufgefallen, dass Sie in den nächsten Jahren viel schneller CO2-Mengen reduzieren wollen als später, wenn es auf 2050 zugeht.

Da haben wir uns nur an die Zielmarken der Bundesregierung gehalten.

Wäre es nicht unter Kostengesichtspunkten schlau, es jetzt etwas langsamer angehen zu lassen, um auf der Zielgeraden nochmal richtig zu beschleunigen? Schließlich werden die Technologien immer billiger.

Wir haben tatsächlich überlegt, ob wir mal ein Szenario durchrechnen sollten, bei dem Deutschland bis zum Jahr 2050 noch eine kumulative Gesamtmenge an CO2 hat. Wann die emittiert wird, wäre dabei egal. Dann wäre vielleicht wirklich herausgekommen, dass man besser noch ein bisschen wartet, bis die Technik billiger wird. Aber wir haben uns entschieden, dies nicht so zu rechnen. Denn man müsste dann am Ende sehr viel in sehr kurzer Zeit investieren. Wie soll das gelingen? Man braucht die Arbeitskräfte, man braucht das Handwerk und die Industrie, die die Anlagen herstellt. Da ist es viel klüger sich jetzt auf einen Weg zu begeben, auf dem man nicht irgendwann extrem beschleunigen muss.

Auf diesem Weg der Energiewende lauern einige Zielkonflikte. Wie antwortet Ihr Modell zum Beispiel auf die Frage: Wärmenetzausbau oder dezentrales Heizen mit Erneuerbaren?

Die Modellergebnisse sind tatsächlich relativ unsensitiv auf diese Frage. Wir hatten schon in der Vorgängerstudie untersucht, ob man Wärmenetze stark ausbauen oder auf heutigem Niveau weiterbetreiben sollte. Was die Kosten betrifft, war der Unterschied nicht sig­ni­fikant. Wärmenetze machen in verdichteten innerstädtischen Bereichen viel Sinn, wo große Energiemengen fließen und wo Energiemanagement stattfinden kann. Gerade auch, weil man dort große Wärmespeicher mit einem günstigen Oberfläche-Volumen-Verhältnis und somit geringen Verlusten bauen kann. Ich halte es aber für eine Fehlentwicklung, dass jetzt teilweise im ländlichen Raum Wärmenetze gebaut werden, wo man lange Trassen hat, um Einzelgebäude zu beheizen.

Ein anderer Zielkonflikt: Heizen mit Strom über Wärmepumpen oder Direktumwandlung erneuerbarer Energie in Wärme, etwa mit Kollektoren?

Letztlich ist das im Endzustand mit überwiegend erneuerbaren Energien im Stromnetz nur eine Frage der Kosten. Wenn es günstiger ist, die Wärmepumpe durch eine kleine Solarthermieanlage zu ergänzen, dann tut man es, ansonsten lässt man es eben sein.

Auf dem langen Weg zum Endzustand haben wir aber das Problem des saisonalen Mehrbedarfs an Strom durch Wärmepumpen, der nur mit Reservekraftwerken gedeckt werden kann.

Richtig. Aber wir brauchen ohnehin auf dem Weg dorthin einen zweiten Kraftwerkspark. Denn es sind keine Strom-zu-Strom-Speicher in Sicht, die mehr als eine Kurzzeit-Speicherung von Solar- und Windstrom sinnvoll übernehmen könnten. Daher braucht man Reserve- oder Komplementärkraftwerke. Wir gelangen zu dem Ergebnis, dass der Wärmebereich die kostengünstigsten Lösungen für flexible Stromnutzung bietet und der Ausbau von Wärmepumpen insofern sinnvoll ist.

Mir fällt auf, dass Sie im Vergleich zu anderen Szenarien neben den Stromtechnologien einen relativ hohen Anteil von Solarthermie empfehlen.

Es liegt daran, welche Kostenentwicklung man für die einzelnen Technologien annimmt. Wir haben für die Solarthermie die Zahlen der Internationalen Energieagentur IEA benutzt – wobei ich überzeugt bin, dass diese Kostenentwicklungen erreichbar sind. Die Kollektoren kosten ja nicht mehr viel in der Fertigung. Bei der Solarthermie ist es eher die Vertriebsstruktur, die es für den Endkunden teuer macht. Unter den verwendeten Zahlen deckt die Solarthermie etwa 15 bis 20 Prozent der Niedertemperaturwärme. Angesichts der Kostenoptimierung in unserem Modell wird aber nirgends saisonal Solarwärme gespeichert. Die Solarthermie kommt im Sommer und um den Sommer herum für Brauchwasser und Raumwärme zum Einsatz. Daneben als Fuelsaver für Niedertemperaturprozesse in Industrie und Gewerbe.

Also nicht das dänische Modell, wo riesige saisonale Wärmespeicher neben der Solarthermie zunehmend auch Stromüberschüsse aufnehmen?

Es werden zwar große Wärmespeicher gebaut, aber wir sehen aus unseren stündlichen Simulationsdaten für 35 Jahre, dass diese Speicher im Wesentlichen als eine Art Wochenspeicher betrieben werden. Die haben 50 Vollzyklen pro Jahr. Wenn es saisonale Speicher wären, dann hätten sie nur 1 bis 2 Vollzyklen pro Jahr.

In den großen dänischen Speichern geht offenbar beides: Saisonale Solarthermie-Speicherung und Einlagern von Windstrom über große Wärmepumpen.

Wärmenetzgebundene Wärmepumpen sind neben der KWK Teil der Lösung. Und netzgebundene Solarthermieanlagen haben ihren wichtigen Anteil, aber eben im Zusammenhang der verschiedenen Techniken.

Interview: Guido Bröer

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