Interview mit Ingrid Nestle: Sektorenkopplung forcieren

Solarthemen 469.Dr. Ingrid Nestle verantwortet als Staatssekretärin im Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein den Bereich Energiewende. Von 2009 bis 2012 war sie Bundestagsabgeordnete und Sprecherin für Energiewirtschaft der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Der Bund müsse es ermöglichen, Regenerativstrom, der wegen Netzengpässen verloren geht, in den Bereichen Wärme, Verkehr und Industrie zu nutzen, fordert die Staatssekretärin im Schleswig-Holsteinischen Energieministerium, Ingrid Nestle. Sektorenkopplung beginne auf lokaler Ebene.

Solarthemen: Wie viel Strom wird in Schleswig-Holstein abgeregelt?

Ingrid Nestle: Wir wissen noch nicht genau, wie viel Strom im vorigen Jahr durch Abschaltung verloren ging. 2014 waren es 8 Prozent des erneuerbaren Stroms. Wir wissen aber, dass es 2015 deutlich mehr war. Ich gehe davon aus, dass in den kommenden Jahren die Abregelungen aufgrund von Netzengpässen wieder sinken, weil die Westküstenleitung, die schon im Bau ist, Stück für Stück in Betrieb genommen wird. Damit wird viel Strom dorthin gelangen, wo der Verbrauch leichter möglich ist, etwa in der Metropolregion Hamburg.

Erledigt sich das Problem damit?

Nein. Wir finden es angesichts der Menge abgeregelten Stroms sehr wichtig, Möglichkeiten zu schaffen, diesen Strom zu nutzen, statt ihn einfach wegzuwerfen. Zwei Drittel der gesamten Stromabregelung Deutschlands fand in Schleswig-Holstein statt.

Das erklärt, warum sich Ihr Land besonders für die Verwendung von Strom für Verkehr und Wärme einsetzt. Was muss sich im Bund ändern?

Wir brauchen eine Möglichkeit für zuschaltbare Lasten. Im Moment ist es widersinnig: Wenn Wind-, Solar- oder Biogasanlagen abgeregelt werden, dann zahlt kein Mensch Netzentgelte, weil der Strom ja gar nicht produziert wird. In dem Moment, wo man diesen Strom, den es sonst gar nicht gäbe, nutzt, muss man volle Umlagen und Steuern zahlen. Dadurch sind natürlich alle Nutzungskonzepte im Wärme- und Verkehrsbereich – sei es über Speicher oder Lastverschiebung – unwirtschaftlich. Es lohnt sich derzeit nicht, den Strom kreativ zu nutzen. Stattdessen wird er dann weggeworfen. Das muss sich ändern.

Wie offen ist die Regierung in Berlin für Ihr Anliegen?

Ich glaube, man hat das Problem erkannt und sieht, dass es wichtig wäre, etwas zu tun. Wir warten jetzt gerade auf einen Vorschlag der Bundesebene. Den werden wir dann bewerten.

Bei welchen Gesetzgebungsvorhaben wollen Sie denn den Hebel ansetzen?

Für die zuschaltbaren Lasten, also die kurzfristige Möglichkeit, bei Netzengpässen den Strom zu nutzen, bräuchte man eine kleine Änderung im Energiewirtschaftsgesetz. Dort gibt es bereits eine Verordnungsermächtigung für zu- und abschaltbare Lasten. Die müsste man noch ein wenig anpassen. Im EEG müsste die Abschaltreihenfolge geändert werden. Und dann bräuchte man natürlich noch die Verordnung selbst. Wie das genau aussehen kann, haben wir in einem Gutachten von der Stiftung Umweltenergierecht ausarbeiten lassen.

Erklären Sie bitte mal für Nichtjuristen, was in der Verordnung stehen sollte?

Es sollte eine Pflicht für Übertragungsnetzbetreiber drinstehen, zuschaltbare Lasten auszuschreiben. Sie müssen verpflichtet werden, bei einem Netz­engpass diese zuschaltbaren Lasten zu nutzen, bevor sie Anlagen abschalten.

Gibt es denn schon genug zuschaltbaren Lasten in Schleswig-Holstein?

Es gibt Akteure, die schon grundsätzliches Interesse bekundet haben, eine solche Möglichkeit zu nutzen. Wer sich dann tatsächlich einbringt und zum Zuge kommt, muss der Markt klären.

Wen können Sie sich vorstellen?

Wir haben zum Beispiel über 200 Wärmenetze im Land. Einige Stadtwerke haben schon Wärmespeicher oder bauen diese gerade. Es gibt auch flexibel einsetzbare Prozesswärme in der Industrie. Sobald die Westküsten-Trasse fertig ist, wird der Netzengpass aus unserer Sicht hinter der Elbe liegen. Dann ist ganz Schleswig-Holstein Potenzialgebiet für zuschaltbare Lasten.

Was bringt dies ökonomisch?

Es bringt den Akteuren etwas, die teureren fossilen Energiebezug vermeiden. Es bringt eine leichte Entlastung bei den Netzentgelten. Es bringt eine bessere Integration der Windenergie und damit auch neue Perspektiven für die Windbranche. Und es bringt Erfahrung mit der Sektorenkopplung, die für den weiteren Fortgang der Energiewende sehr wertvoll sein wird. Nicht zuletzt ist die Ersetzung fossiler Energie durch Strom aus Erneuerbaren ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz.

Ist Sektorenkopplung ein überregionales, regionales oder ein lokales Projekt?

Ich glaube, dass sich dies über alle Ebenen erstrecken muss. Es fängt zunächst auf der lokalen Ebene an. Dort wird man es zunächst implementieren und ausprobieren. Später wird es sich auch auf die regionale und überregionale Ebene erstrecken, weil wir damit eine effiziente Steuerung für die Energiewende erreichen können.

Was tun Sie als Bundesland?

Zusammen mit Hamburg haben wir zum Beispiel das Projekt Norddeutsche EnergieWende, kurz NEW 4.0, gestartet. Es geht darum, die beiden Bundesländer bis 2035 zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Dabei wollen wir unter anderem die klassische Vorstellung von Sektorkopplung in der Praxis umsetzen.

Was ist Ihr persönlicher Beitrag zur Kopplung der Sektoren?

Eine hohe Beharrlichkeit, das Thema auf Bundesebene zu forcieren und es in konkreten Projekten in Schleswig-Holstein zur Anwendung zu bringen.

Interview: Guido Bröer
Foto: Olaf Bathke

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