Interview mit Paul Grunow: Vor-Ort-Strom als neues Paradigma

Solarthemen 493. Dr. Paul Grunow, Vorstand der PI Photovoltaik-Institut Berlin AG, gehörte zu den Gründern der Unternehmen Solon und Q-Cells. Er gründete 2008 zusammen mit seiner Frau Frauke Eysell die Haleakala Stiftung. Diese organisierte in den letzten Jahren einen Think Tank mit etwa 50 Energiemarktexperten, dessen Ergebnis jetzt im Bericht „Vor-Ort-Strom – Wege zur Dezentralisierung der Stromversorgung“ veröffentlicht wurde.

Solarthemen: Was läuft heute falsch im Strommarkt?

Paul Grunow: Der Strommarkt muss sich anpassen an neue Gegebenheiten. Die große Frage ist, was sinnvoller ist: eine vollständige Vernetzung nach dem Motto „die Welt als Kupferplatte“ mit zentralen Märkten oder eine dezentrale Organisation. Eine empirischbegründete Antwort kann man bislang nicht geben, eher kann man eine Wette darauf abschließen. Wir sind keine Dogmatiker. Wir stellen nur die Frage, ob es nicht sinnvoller ist, den Markt dezentral zu organisieren und vom Vor-Ort-Strom her aufzubauen?

Welches Modell steht hinter ihrem Begriff des Vor-Ort-Stroms?

Dass wir den Strom dort erzeugen, wo er verbraucht wird – beziehungsweise verbrauchen, wo er erzeugt wird.

Das passiert ja eigentlich schon mit jeder Photovoltaik-Anlage und jedem Windrad, das installiert wird. Der Strom sucht sich den kürzesten Weg.

Ja. Physikalisch ist das nicht unterscheidbar. Das Problem ist, dass die dezentralen Solar- und Wind-Generatoren mit Wind und Wetter fluktuieren, während Biogasanlagen noch immer rund um die Uhr durchlaufen. Entweder muss deshalb die ganze Welt vernetzt werden in einem riesigen Schwarm, in dem irgendwer irgendwo auf der Welt immer Sonne oder Wind hat. Könnte man davon ausgehen, dass der dann schon liefern wird, müsste man nur auf die Gesamtbilanz achten und den Rest übernimmt das Worldwide Grid. Nach den Vorstellungen eines großen chinesischen Netzbetreibers könnte man dann für 6 Cent pro Kilowattstunde in Europa den Strom aus China beziehen und andersherum.

Wenn die eine Vision die totale Vernetzung ist, was ist die Alternative?

Die Alternative wäre, dass jeder lokal Strom erzeugt und verbraucht. Wo man die Grenze zieht, ist offen. Jedenfalls wird es irgendwo zwischen einem Solar-Home-System und dem Worldwide Grid ein Optimum geben. Ein Mini-Solar-Home-System ohne Vernetzung ist für Deutschland keine Lösung. Aber hier gibt es Leute, die sich zu ihrer PV-Anlage einen Speicher kaufen und damit schon mal 70 Prozent ihres Bedarfs abdecken. Doch es bleibt das Problem des Winters. Deshalb gehen nun Leute an den Markt, die Wasserstoff erzeugen und in Flaschen speichern, um die Energie saisonal zu verschieben, ohne Strom vom Netz zu bekommen. Wenn das genauso viel kostet, stelle ich die Frage, welches System ist dann besser?

Ist denn Autarkie das neue Leitbild?

Autarkie ist nur ein Modell. Das andere Modell ist die Vernetzung. Die Volkswirte sagen ja, je größer der Markt ist, je weiter das Netz sich erstreckt, desto geringer die Preise und desto besser also für den Endverbraucher. Nach dieser Logik geht in Zeiten der Knappheit oder durch Nichtvernetztheit der Preis hoch. Dieses Argument verstehen wir schon. Die Antwort – von unserem Think Tank übrigens wie von der Agora Energiewende: Dezentralität hat keinen Wert an sich. Das soll heißen: Man kann den Wert der Dezentralität nicht monetarisieren. Man kann ihn nicht in eine Excel-Tabelle reinpacken, die Optimierungsrechnungen für das Energiesystem macht. Deshalb kommt bei all den berechneten Masterplanmodellen nie Dezentralität als Lösung raus. Aber aus dem Bauch heraus sagen die Vor-Ort-Stromer, die sich in den Unabhängigkeitsgedanken verliebt haben, die Dezentralisierung passiert doch ohnehin gerade, zum Beispiel durch die PV-Speicher. Man kann zwar sagen, dass dies aus einer etwas egoistischen Regung heraus passiert. Aber die ist im Moment für die Technologieentwicklung sehr nützlich, denn diese Leute sind bereit, die hohen Anfangskosten für Speicher zu zahlen.

Was verstehen Sie denn eigentlich konkret unter Vor-Ort-Strom?

Das ist natürlich erstmal der Eigenverbrauch, aber es ist darüber hinaus auch die Energielieferung einer Biogasanlage in der Nachbarschaft. Alles, wo lokal Energie erzeugt und auch abgenommen wird. Die Motivation ist einerseits Selbstbefriedigung, so wie ich mir die eigenen Tomaten züchte und mich dran freue. Dazu kommt aber zunehmend die Sorge, dass einem der Strom abgestellt werden könnte. Ich würde deshalb auch als einen ökonomischen Wert des dezentralen Systems hervorheben, dass es robuster ist gegen Ausfälle und Bedrohungen.

Ist denn nicht auch das Streben nach Autarkie eine Bedrohung für das Netz – Stichwort Entsolidarisierung?

Das ist nur für das bestehende System eine Bedrohung. Man muss akzeptieren, dass die Umstellung auf dezentral nicht die Fortentwicklung des existierenden Strommarktes ist. Es ist ein Paradigmenwechsel. Dezentralisierung passiert einfach. Und man kann es ökonomisch noch nicht mal begründen, weil es noch teurer ist. Aber es passiert, weil es eben doch für diejenigen, die es machen, irgendeinen Mehrwert gibt. Einige Experten sagen sogar, am Ende werde es auch billiger, weil es durch Skalierung von immer den gleichen kleinen Produktbausteinen günstiger werde. Auch weil die Intelligenz nicht mehr in zentraler Großtechnik steckt, sondern sie ähnlich verteilt wird wie bei der Consumer-Elektronik – Stichwort Internet of Things. Für den Techniker wird es moderner, effizienter, besser. Der Politiker sieht das aber genau andersherum, der sieht das Energiesystem als Markt, zu dem die Technik nur irgendwie dazugehört.

Was halten Sie Politikern und Ökonomen entgegen?

Es gibt Rechnungen, wonach zum Beispiel gegenüber einer vollständigen Vernetzung von China und Japan Speicher bereits auf dem jetzigen Preisniveau günstiger wären als ein Netzausbau. Obwohl die Speicher ja im Moment noch so teuer sind. Für mich ist aber ein noch wichtigeres Argument gegen die Idee von der Kupferplatte, dass sich die berühmte kalte Dunkelflaute, wenn sie denn eintritt, mehr oder weniger über ganz Europa erstrecken würde. In dem Moment nutzt einem das Netz nichts. Da bräuchte man also einen Schattenkraftwerkspark, der für ein paar Tage im Jahr die gesamte Energiewirtschaft schmeißt – das wäre völlig ineffizient. Also braucht man eigentlich von vornherein Speicher. Aber wenn du Speicher hast, wozu brauchst Du dann ein Netz – bzw. solch ein riesiges Netz? In der schönen Welt, die sich die Vor-Ort-Stromer denken, macht jeder seinen Strom und nur die Spitzen verscherbelt man untereinander.

Weitere ökonomische Argumente?

Es ist auch ein Kostenfaktor, dass man die erneuerbaren Kraftwerke nicht überall hinbauen kann, sondern dies jeweils mit denjenigen verhandeln muss, die da wohnen. Das wäre natürlich leichter, wenn die Leute ihren Strom auch aus den Anlagen bekommen würden, die sie täglich sehen. Heute kriegt man es wegen der Gesetzeslage aber nicht hin, dass die Leute, die neben einem Windpark leben, den Strom billiger bekommen, obwohl der ja kaum durchs Netz fließt.

Warum tut sich die Politik so schwer, das Regelwerk der dezentralen Struktur der Erneuerbaren anzupassen?

Weil dem Minister natürlich eine zentrale Lösung lieber wäre. Nach dem Motto: Ich ersetze Kernkraftwerke durch erneuerbare Kraftwerke und behalte die sonstigen Strukturen und die Player bei. Warum soll ich denn als Politiker Unruhe in den Laden bringen. Die Politik ist nicht der Player, der den roten Teppich für die Vor-Ort-Stromer ausrollt und sagt: „Juhu, auf euch haben wir gewartet.“ Außerdem ist ja die Lobby der alten Energiewirtschaft noch präsent. Das Marketing von E.ON und RWE erzählt zwar inzwischen genau dasselbe wie wir. Aber deren Lobbyisten laufen ja wie Zombies immer weiter.

Wie kriegt man es durchgesetzt, dass Vor-Ort-Strom eine Chance bekommt, dass beispielsweise Eigenstrom ohne EEG-Umlage genutzt werden kann, dass Mieterstrom nicht zum bürokratischen Monstrum wird und dass Regionalstrom wirklich aus der Region kommt?

Rainer Baake (Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium – red.) wird wohl niemals über seinen Schatten springen und die EEG-Umlage auf den Eigenverbrauch als Fehler eingestehen. Alles, was in diese Richtung geht, Vor-Ort-Versorgung zu behindern, das ist aber für die weitere technologische Entwicklung hinderlich. Ich sehe aber, dass andere Volkswirtschaften ihre Möglichkeiten nutzen. Wenn das harte Ringen am Markt um die besten technologischen Lösungen in Deutschland unterbrochen wird und woanders nicht, dann ist das nicht klug. Aber ich vermute, dass dieses vermeintliche Solidaritätsargument hauptsächlich aus Solidarität mit der falschen Seite entspringt. Nämlich mit den Energieriesen, deren zentralistisches Geschäftsmodell durch Dezentralität bedroht ist. Ein zentrales System ist auch leichter zu beherrschen, wäre da nicht die Digitalisierung, die plötzlich Dinge möglich macht, die früher nicht möglich waren. Im Zusammenhang mit Digitalisierung und Industrie 4.0 redet aber heute jeder von dezentralen Steuerungen und intelligenten Einzelkomponenten, die die Kommunikation robuster machen und die Kosten run­terziehen. Das könnte auch den dezentralen Ansatz bei der Energie salonfähig machen.

Interview: Guido Bröer
Foto: PI Photovoltaik-Institut Berlin AG

Download des Berichts „Vor-Ort-Strom“ unter:www.haleakala-stiftung.de

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