Wärmedrehscheibe Hennigsdorf

Foto: Guido Bröer
100 Prozent erneuerbare Energie für das Fernwärmenetz einer Industriestadt. Geht das überhaupt? – Wenn, dann nur mit großem Gestaltungswillen und neuem Denken. Die Stadt Hennigsdorf, nördlich von Berlin gelegen, will es vormachen.
100 Prozent erneuerbare Energie für das Fernwärmenetz einer Industriestadt. Geht das überhaupt? – Wenn, dann nur mit großem Gestaltungswillen und neuem Denken. Die Stadt Hennigsdorf, nördlich von Berlin gelegen, will es vormachen.
Wer wissen will, was es mit der Energiewende in Hennigsdorf auf sich hat und wie hier die Fernwärme solarisiert wird, der besucht am besten Thomas Bethke, den Chef der Hennigs­dorfer Stadt­werke. Bethke arbeitet in einem lichten Büro im Technologiezentrum, einem schicken Glaskasten, „Blaues Wunder” genannt. Ab und zu rappelt vor dem Fenster die S-Bahn vorbei. Sonst ist es ruhig an diesem trüben Dezembernachmittag. Manche Mitarbeiter sind schon gegan­gen, um sich auf die abend­liche Weihnachtsfeier vorzubereiten. Der Chef nimmt sich vorher noch Zeit für das Gespräch mit der Energiekommune.
Thomas Bethke will die Fernwärme komplett auf Erneuerbare und Abwärme umstellen.

Mit Presseleuten geht der hemdsär­me­lige Mittfünfziger locker um, ist er doch mit einer Journa­listin verheiratet. Er kennt das Spiel – und bestimmt es gern selbst. Schlich­te Frage, simple Antwort – so läuft das nicht bei Bethke. Wer von ihm was wissen will, der muss ein bisschen Zeit mitbringen.
Schließlich ist der Plan, wie das Hennigsdorfer Wärmenetz zur „Wärmedrehscheibe“ und damit zum ökologischen Vorreiter unter Deutschlands Fernwärmenetzen werden soll, nicht vom Himmel gefallen. Ebensowenig, wie der Be­schluss der Stadtverordnetenversammlung, die vor Monaten grünes Licht für das Großvorhaben gegeben hat. „Ja, der Beschluss ist gefasst – wir müssen es nur noch machen“, sagt Bethke und be­ginnt erstmal einen Exkurs zur Geschichte Hennigsdorfs.
Hennigsdorf ist keine gewöhnliche Kleinstadt
Zu Kaisers Zeiten wurde in dem beschaulichen Dorf nordwestlich von Berlin innerhalb weniger Jahre ein Zentrum der deutschen Schwer- und Rüstungsindustrie aus dem märkischen Sand gestampft. Bis zum zweiten Weltkrieg wurden hier von AEG Lokomo­tiven gebaut und Stahl produziert. Nach verheerenden Bombardements kurz vor Kriegsende baute die DDR die nunmehr volks­eige­ne Schwerindustrie in Hennigsdorf wieder auf. Nur das Reservoir an Arbeitskräften, die zuvor täglich mit der S-Bahn aus der nahen Metropole herangerollt waren, das befand sich nun aus Perspektive der DDR-Kombinate auf der falschen Seite einer Mauer in Westberlin. In Hennigsdorf mussten also Wohnungen für Werktätige gebaut werden – schnell, preiswert, auf engem Raum. So entstanden hier seit den 1950er Jahren verdichtete, mehrgeschossige Wohnsiedlungen.
Für die nach der Wende entwickelte Fernwärmestrategie der Stadt war diese Siedlungsstruktur eine günstige Voraussetzung. Die Stadtwärme Hennigsdorf GmbH übernahm als 100-prozentiger Eigenbetrieb der Kommune die Braunkohle-Heizwerke, die seit den 1960-er Jahren aufgebaut worden waren, und erweiterte Schritt für Schritt das Netz. „Durch Sanierung und Abbruch von Gebäuden haben wir seit der Wende 60 Prozent unserer Anschlussleistung verloren“, berichtet Bethke. „In Summe haben wir unsere Anschlussleistung allerdings verdreifacht.“ Heute sind in Hennigsdorf 80 Prozent der Wohngebäude und 70 Prozent der Gewerbebetriebe ans Wärmenetz angeschlossen – Werte, die bundesweit ihresgleichen suchen.
Dahinter steht eine konsequent umgesetzte städtebauliche Visi­on. Auf der einen Seite sei es darum gegangen, die industriellen Kerne zu erhalten sowie neue Mittelständler anzuzie­hen, auf der anderen Seite das Image der Industriestadt aufzupolieren und qualifizierten jungen Arbeitskräf­ten eine gewisse Lebensqualität zu bieten, sagt Bethke: „Was anderswo unter dem ökologischen Aspekt diskutiert würde, ist für uns einfach Pragmatismus.“
Am Thema Energie kommt man dabei nicht vorbei, denn der Energieverbrauch ist in Hennigsdorf pro Kopf der 26000 Einwohner doppelt so hoch wie im Bundesdurch­schnitt. Verantwortlich ist dafür der hohe Industrieanteil mit Großverbrauchern wie dem Elektrostahlwerk des Riva-Konzerns und dem Schienenfahrzeugbau von Bombardier.
Im Wärmesektor wurde der CO2-Ausstoß bereits im Jahr 2009 schlag­artig halbiert: durch die Inbetrieb­nah­me des Biomasse-Heizkraftwerks, das Hackschnitzel aus brandenburgischen Wäldern verwendet, und ein biomethan-betrie­be­nes Blockheizkraftwerk. Innerhalb der nächsten vier Jahre soll nun die Wärmeversorgung möglichst vollstän­dig dekarbonisiert werden – Stichwort: „Wärmedrehscheibe“.
„Ich muss den Kunden kennen”
Wenn Thomas Bethke das Bild von der „Wärmedrehscheibe“ erklären soll, berichtet er aber nicht etwa von der künf­tigen Abwärmenutzung aus dem Stahlwerk, den geplanten großen Solaranlagen, den Power-to-Heat-Anlagen zur  Nutzung überschüssigen Wind­stroms und vom riesigen multifunktio­na­len Wärmespeicher, der all dies zu ei­nem System verbinden soll. Statt­des­sen erzählt Bethke von dem Mehrfa­milien­haus, in dem kürzlich der Trinkwasser-Wärmeverbrauch auf ein Vielfaches des Üblichen angestiegen sei. Da jeder Anschluss von den Stadtwerken fernüberwacht wird, habe man des Rätsels Lösung schnell gefunden: Ein frischgebackener Installateur-Meister habe sich in seiner Mietwohnung den Traum von einer privaten Badelandschaft erfüllt. Bethke will mit dem Beispiel sagen: „Ich muss meinen Kunden kennen und wie der sich entwickelt. Für jede einzelne Übergabestation muss ich das wissen, denn der Kontakt zum Kunden ist der Schlüs­sel zur Wärmedrehscheibe.“ Und nochmal als Credo: „Wärmedreh­schei­be heißt: messen, steuern, regeln.“
Denn wenn künftig insbesondere Solarwärme, womöglich Wind­strom, aber auch die plötzlichen Abwärmeschübe des Stahlwerks als fluktuierende Energien ins Wärmenetz geholt werden sollten, dann komme es mehr denn je auf eine hohe Transparenz der Verbrauchsseite, Flexibilität der sonstigen Erzeugung und Speicher an, so Bethke: „Bei der Sonne kann ich keinen Knopf drücken wie bei meinen Heizwerken.“
Der Kontakt zu den einzelnen Kunden sei auch deshalb wichtig, um die Temperaturen im gesamten Netz zu drücken. Denn gerade die Solarkollektoren arbeiten dann effizienter: „Je mehr nichtfossile Energien im System sind, desto wichtiger ist es, die Vorlauf­tempe­ratu­ren zu senken.“
Womit wir zu guter Letzt doch noch beim Thema angekommen wä­ren: Die Rolle der Sonne im künftigen Wärme­netz von Hennigsdorf. Geplant ist 2018 zunächst die Erneuerung der 18 Jahre alten Kollektorflächen (1000 m2) auf den Wohnhäusern des Cohn’schen Vier­tels, deren Dachaufbau nicht mehr zeitgemäß ist. Danach kommt eine 3000-Quadratmeter-Kollektoranlage neben ei­nem Biomasse-Heizwerk und schließ­lich ist ab 2020 der Bau der 15000 Quadratmeter großen Solarthermieanlage am Stahlwerk geplant. „Die Flächen haben wir uns übrigens schon gesichert”, sagt Beth­ke beiläufig.
Für das obligatorische Pressefoto streift er schnell noch ein Jacket über’s karierte Hemd, und dann geht’s ab zur Weihnachtsfeier. Die Kolleginnen und Kollegen warten schon.
Text: Guido Bröer
Der Artikel ist im Original in der Zeitschrift Energiekommune, Ausgabe 1/2018, erschienen. www.energiekommune.de
06.12.2017 | Quelle: Energiekommune 1/2018 | solarserver.de © EEM Energy & Environment Media GmbH

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