Wärmedrehscheibe Hennigsdorf
Mit Presseleuten geht der hemdsärmelige Mittfünfziger locker um, ist er doch mit einer Journalistin verheiratet. Er kennt das Spiel – und bestimmt es gern selbst. Schlichte Frage, simple Antwort – so läuft das nicht bei Bethke. Wer von ihm was wissen will, der muss ein bisschen Zeit mitbringen.
Schließlich ist der Plan, wie das Hennigsdorfer Wärmenetz zur „Wärmedrehscheibe“ und damit zum ökologischen Vorreiter unter Deutschlands Fernwärmenetzen werden soll, nicht vom Himmel gefallen. Ebensowenig, wie der Beschluss der Stadtverordnetenversammlung, die vor Monaten grünes Licht für das Großvorhaben gegeben hat. „Ja, der Beschluss ist gefasst – wir müssen es nur noch machen“, sagt Bethke und beginnt erstmal einen Exkurs zur Geschichte Hennigsdorfs.
Hennigsdorf ist keine gewöhnliche Kleinstadt
Zu Kaisers Zeiten wurde in dem beschaulichen Dorf nordwestlich von Berlin innerhalb weniger Jahre ein Zentrum der deutschen Schwer- und Rüstungsindustrie aus dem märkischen Sand gestampft. Bis zum zweiten Weltkrieg wurden hier von AEG Lokomotiven gebaut und Stahl produziert. Nach verheerenden Bombardements kurz vor Kriegsende baute die DDR die nunmehr volkseigene Schwerindustrie in Hennigsdorf wieder auf. Nur das Reservoir an Arbeitskräften, die zuvor täglich mit der S-Bahn aus der nahen Metropole herangerollt waren, das befand sich nun aus Perspektive der DDR-Kombinate auf der falschen Seite einer Mauer in Westberlin. In Hennigsdorf mussten also Wohnungen für Werktätige gebaut werden – schnell, preiswert, auf engem Raum. So entstanden hier seit den 1950er Jahren verdichtete, mehrgeschossige Wohnsiedlungen.
Für die nach der Wende entwickelte Fernwärmestrategie der Stadt war diese Siedlungsstruktur eine günstige Voraussetzung. Die Stadtwärme Hennigsdorf GmbH übernahm als 100-prozentiger Eigenbetrieb der Kommune die Braunkohle-Heizwerke, die seit den 1960-er Jahren aufgebaut worden waren, und erweiterte Schritt für Schritt das Netz. „Durch Sanierung und Abbruch von Gebäuden haben wir seit der Wende 60 Prozent unserer Anschlussleistung verloren“, berichtet Bethke. „In Summe haben wir unsere Anschlussleistung allerdings verdreifacht.“ Heute sind in Hennigsdorf 80 Prozent der Wohngebäude und 70 Prozent der Gewerbebetriebe ans Wärmenetz angeschlossen – Werte, die bundesweit ihresgleichen suchen.
Dahinter steht eine konsequent umgesetzte städtebauliche Vision. Auf der einen Seite sei es darum gegangen, die industriellen Kerne zu erhalten sowie neue Mittelständler anzuziehen, auf der anderen Seite das Image der Industriestadt aufzupolieren und qualifizierten jungen Arbeitskräften eine gewisse Lebensqualität zu bieten, sagt Bethke: „Was anderswo unter dem ökologischen Aspekt diskutiert würde, ist für uns einfach Pragmatismus.“
Am Thema Energie kommt man dabei nicht vorbei, denn der Energieverbrauch ist in Hennigsdorf pro Kopf der 26000 Einwohner doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Verantwortlich ist dafür der hohe Industrieanteil mit Großverbrauchern wie dem Elektrostahlwerk des Riva-Konzerns und dem Schienenfahrzeugbau von Bombardier.
Im Wärmesektor wurde der CO2-Ausstoß bereits im Jahr 2009 schlagartig halbiert: durch die Inbetriebnahme des Biomasse-Heizkraftwerks, das Hackschnitzel aus brandenburgischen Wäldern verwendet, und ein biomethan-betriebenes Blockheizkraftwerk. Innerhalb der nächsten vier Jahre soll nun die Wärmeversorgung möglichst vollständig dekarbonisiert werden – Stichwort: „Wärmedrehscheibe“.
„Ich muss den Kunden kennen”
Wenn Thomas Bethke das Bild von der „Wärmedrehscheibe“ erklären soll, berichtet er aber nicht etwa von der künftigen Abwärmenutzung aus dem Stahlwerk, den geplanten großen Solaranlagen, den Power-to-Heat-Anlagen zur Nutzung überschüssigen Windstroms und vom riesigen multifunktionalen Wärmespeicher, der all dies zu einem System verbinden soll. Stattdessen erzählt Bethke von dem Mehrfamilienhaus, in dem kürzlich der Trinkwasser-Wärmeverbrauch auf ein Vielfaches des Üblichen angestiegen sei. Da jeder Anschluss von den Stadtwerken fernüberwacht wird, habe man des Rätsels Lösung schnell gefunden: Ein frischgebackener Installateur-Meister habe sich in seiner Mietwohnung den Traum von einer privaten Badelandschaft erfüllt. Bethke will mit dem Beispiel sagen: „Ich muss meinen Kunden kennen und wie der sich entwickelt. Für jede einzelne Übergabestation muss ich das wissen, denn der Kontakt zum Kunden ist der Schlüssel zur Wärmedrehscheibe.“ Und nochmal als Credo: „Wärmedrehscheibe heißt: messen, steuern, regeln.“
Denn wenn künftig insbesondere Solarwärme, womöglich Windstrom, aber auch die plötzlichen Abwärmeschübe des Stahlwerks als fluktuierende Energien ins Wärmenetz geholt werden sollten, dann komme es mehr denn je auf eine hohe Transparenz der Verbrauchsseite, Flexibilität der sonstigen Erzeugung und Speicher an, so Bethke: „Bei der Sonne kann ich keinen Knopf drücken wie bei meinen Heizwerken.“
Der Kontakt zu den einzelnen Kunden sei auch deshalb wichtig, um die Temperaturen im gesamten Netz zu drücken. Denn gerade die Solarkollektoren arbeiten dann effizienter: „Je mehr nichtfossile Energien im System sind, desto wichtiger ist es, die Vorlauftemperaturen zu senken.“
Womit wir zu guter Letzt doch noch beim Thema angekommen wären: Die Rolle der Sonne im künftigen Wärmenetz von Hennigsdorf. Geplant ist 2018 zunächst die Erneuerung der 18 Jahre alten Kollektorflächen (1000 m2) auf den Wohnhäusern des Cohn’schen Viertels, deren Dachaufbau nicht mehr zeitgemäß ist. Danach kommt eine 3000-Quadratmeter-Kollektoranlage neben einem Biomasse-Heizwerk und schließlich ist ab 2020 der Bau der 15000 Quadratmeter großen Solarthermieanlage am Stahlwerk geplant. „Die Flächen haben wir uns übrigens schon gesichert”, sagt Bethke beiläufig.
Für das obligatorische Pressefoto streift er schnell noch ein Jacket über’s karierte Hemd, und dann geht’s ab zur Weihnachtsfeier. Die Kolleginnen und Kollegen warten schon.
Text: Guido Bröer
Der Artikel ist im Original in der Zeitschrift Energiekommune, Ausgabe 1/2018, erschienen. www.energiekommune.de
06.12.2017 | Quelle: Energiekommune 1/2018 | solarserver.de © EEM Energy & Environment Media GmbH