Marktplatz für erneuerbare Wärme im Hamburg
Der Startschuss fiel in der vergangenen Woche: Sechs Konsortialpartner unter Leitung des kommunalen Versorgers Hamburg Energie erhielten vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) einen Förderbescheid über fast 23 Millionen Euro für ihr Projekt. „Integrierte WärmeWende Wilhelmsburg IW3“ ist eines der 20 vom BMWi ausgewählten „Reallabore der Energiewende“. Ziel ist eine 100-prozentig erneuerbare Wärmeversorgung für zunächst 10.000, später 70.000 Menschen auf der Elbinsel Wilhelmsburg.
Als Herzstück ist eine Geothermiebohrung in ein 3500 Meter tief gelegenes Thermalwasser-Reservoir geplant. Hinzu kommt ein großer oberflächennaher Aquiferspeicher. In dem soll während der Sommermonate erneuerbare Wärme für den Winter eingelagert werden. Der Speicher soll auch Sektorenkopplung ermöglichen, indem er als Power-to-Heat-Speicher große Strommengen aus norddeutschen Windkraftanlagen aufnehmen kann. Die Hardware von IW3 wäre also allein schon Grund genug für die Fachwelt, das Hamburger Experiment in den kommenden Jahren aufmerksam zu beobachten. Doch das i-Tüpfelchen des Reallabors IW3 ist ein offener Marktplatz für erneuerbare Wärme, der hier erstmals nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxisentwickelt werden soll.
Politischer Sprengstoff
Das Thema birgt durchaus politischen Sprengstoff, denn im Gegensatz zu den Stromnetzen, wo seit mehr als 20 Jahren europaweit die Regeln des Unbundling gelten, also die geschäftsmäßige Trennung von Erzeugung, Transport und Vertrieb, befinden sich bei der Fernwärme bis heute zumeist alle drei Säulen in einer Hand. Wenn im Ausnahmefall Dritte in das Netz eines klassischen Versorgers einspeisen, zum Beispiel Abwärme aus einem Industriebetrieb, dann geschieht das heute auf Basis staatlich nicht regulierter Verträge zwischen Netzbetreiber und Wärmelieferant. Im Wärmebereich gilt weder eine Einspeisegarantie, wie das EEG sie für Stromnetze bietet, noch gibt es dort einen Marktplatz wie die Strombörse.
Was erlaubt der Rechtsrahmen?
Zumindest Letzteres soll sich bald im begrenzten Rahmen des Wilhelmsburger Wärmenetzes ändern. Dafür allerdings ist viel an Vorarbeit nötig. Zum einen müssen die Projektpartner die Informationtechnik dafür aufbauen. Zum zweiten sind die Marktregeln zu klären, und zum dritten ist dann zu überprüfen, ob diese mit dem bestehenden Rechtsrahmen in Deutschland und Europa konform sind – beziehungsweise man dieser gegebenfalls ändern müsste.
Interessant ist dies vor allem mit Blick auf den Primärenergiefaktor, den jeder Fernwärmebetreiber für seinen Energiemix ausweisen muss. Heute gilt der Grundsatz: Ein Netz – ein Primärenergiefaktor. Doch der Jurist Christian Maaß, als Geschäftsführer des Hamburg Instituts einer der Konsortialpartner des Wilhelmsburger Reallabors, sieht diesen nicht in Stein gemeißelt. Er möchte mit seinem Team neben dem Marktplatz für erneuerbare Wärme ein System von Herkunftsnachweisen für erneuerbare Wärme entwickeln, das die ökologische Qualität von Fernwärmemengen innerhalb eines Netzes zur Handelsware machen kann. Maaß möchte auf diese Weise die Nachfrageseite für die Vergrünung der Fernwärme einspannen: „Es gibt eine hohe Zahlungsbereitschaft für niedrige Primärenergiefaktoren von Seiten der Wohnungsunternehmen. Außerdem sind Industrie und Gewerbe zunehmend bereit, für CO2-freie Energie einen Obolus zahlen. Wir wollen diese Zahlungsbereitschaften nutzen und in neue Wärmeprodukte auf Basis erneuerbarer Energien fließen lassen.“
Einheitliche Primärenergiefaktoren?
Wenn sich allerdings eine Wohnungsbaugesellschaft vom Versorger mit 100 Prozent erneuerbarer Wärme beliefern lassen könnte, um beim Bau einer neue Wohnanlage laut Vorgaben des Gebäudeenergiegesetzes an der Dämmung zu sparen, dann wäre die Konsequenz, dass entweder zusätzliche EE-Wärmemengen ins Netz fließen müssten oder dass der Primärenergiefaktor für die restlichen Wärme im Netz stiege. Denn eine Doppelvermarktung müsse auf dem Marktplatz für erneuerbare Wärme ausgeschlossen sein, betont Maaß.
So steht es auch ausdrücklich in Artikel 19 der Ende 2018 beschlossenen europäischen Erneuerbare-Energien-Richtline, die spätestens Ende Juni 2021 in deutsches Recht umgesetzt sein muss. Demnach sind künftig für alle Formen erneuerbarer Energien, also nicht mehr nur für Strom, sondern auch für Gas und Wärme Herkunftsnachweise zu erstellen. Der Staatssekretär des BMWi, Andreas Feicht, bis Anfang 2019 selbst Chef eines Stadtwerkes, betonte denn auch bei der Übergabe des Förderschecks: „Die hier erprobten Konzepte sind deutschlandweit übertragbar.“
Die binnenmarktfokussierte EU-Kommission präferiere zwar netzunabhängige Handelsmöglichkeiten für EE-Wärme-Zertifikate, berichtet Maaß. Ein Handel von Herkunftsnachweisen über Netzgrenzen hinweg, kommt für ihn allerdings nicht in Frage: „Bei unserem Herkunftsnachweissystem wird sichergestellt, dass alles, was dem Fernwärmenetz an erneuerbarer Wärme entnommen wird, auch in dieses eingespeist wird“, formuliert Maaß als Leitsatz.
Neue Wege entstehen im Gehen
Die Details dafür sind freilich während der Laufzeit des Reallabors erst noch zu entwickeln. Beispielsweise könnte es um Fragen der Zeitgleichheit von Erzeugung und Verbrauch gehen. Anders als im Stromnetz ermöglichen allerdings der Aquiferspeicher und auch der Pufferspeicher des bestehenden „Solarbunkers“ im Wärmenetz des Reallabors eine Entkopplung von Erzeugung und Verbrauch. Um so mehr werden sich die Entwickler von Marktplatz und Herkunftsnachweisen um die Bewertung von Speicher- und Netzverlusten Gedanken machen müssen.
Vor der Komplexität des Themas warnt denn auch Werner Lutsch, Geschäftsführer des Fernwärmeverbandes AGFW, im Gespräch mit den Solarthemen: „Liberalisierung kann bei Fernwärmenetzen nicht so funktionieren wie im Strom oder im Gasbereich.“ Die technischen Randbedingungen seien völlig andere. Allein schon, weil es kein überregionales Netz gebe, sondern ausschließlich lokale Fernwärmenetze. Außerdem sei gut abzuwägen, so Lutsch, wo mögliche Wettbewerbsvorteile einer Liberalisierung durch neue Transaktionskosten von Handel und Regulierung überwogen würden. Nichtsdestotrotz zeigt sich Lutsch gegenüber dem Hamburger Experiment offen: „Solange hier unter dem Begriff des Reallabors an Möglichkeiten geforscht wird, finde ich das eine gute Sache. Wichtig ist, dass dabei die technischen Rahmenbedingungen eingehalten werden.“
Kein virtueller Wärmehandel!
Einig ist sich Verbandschef Lutsch, der nicht nur für die Deutschen Fernwärmeversorger spricht, sondern als Präsident von Euroheat & Power auch die europäische Branche vertritt, mit den Hamburger Reformern, dass Herkunftsnachweise für erneuerbare Wärme nicht als Vehikel für einen rein virtuellen Handel mit Wärmemengen dienen sollten.
Lutsch sagt: „Es würde ja keinen Sinn machen, in Südspanien Zertifikate für Solarwärme einzukaufen, um diese in Hamburg an Kunden zu verkaufen. Als Kunde würde ich etwas erwerben, was nicht im Entferntesten mit dem zu tun hat, was ich geliefert bekomme.“
20.8.2020 | Autor: Guido Bröer
© Solarthemen Media GmbH