Von grün bis liberal: Parteien ohne Masterplan für das künftige Stromsystem
Welche Parteien haben die ambitionierteste Klima- und Energiepolitik? Eine neue Studie des Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies e.V. (IASS) gibt eine überraschende Antwort: In Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien sind die Ziele über das politische Spektrum von grün bis wirtschaftsliberal hinweg von ähnlichem Ehrgeiz geprägt. Allerdings fanden die Forscherinnen und Forscher auch ein gewichtiges Manko, das die Energiewende bremst: Keine der untersuchten Parteien hat einen überzeugenden Masterplan für das künftige Stromsystem und ein Konzept für einen Technologiemix, der bei wetterbedingten Schwankungen von Wind- und Solarenergie die Netzstabilität gewährleistet.
Die Forscherinnen und Forscher analysierten die Klimapolitik in den vier größten Strommärkten der EU. Für Deutschland und Spanien bezogen sie zudem repräsentative Befragungen der Bevölkerung ein. Die Parteienlandschaft unterteilten sie nach drei grundsätzlich verschiedenen Ansätzen für die Energiewende, wie Leitautor Richard Thonig vom IASS erläutert: „Staatszentrierte Politik stellt eine von Expertinnen und Experten geleitete Planung ins Zentrum und macht detaillierte Vorgaben, etwa für den Netzausbau oder den Atom- und Kohleausstieg. Eine marktzentrierte Ideologie überlässt die Details des zukünftigen Energiesystems den Marktakteuren und beschränkt sich darauf, klare Rahmenbedingungen zu setzen. ‚Grüne‘ Ideologien hingegen streben eine dezentrale Energiewende in Bürgerhand an.“ Die Studie zeigt, wie sich die drei Ansätze in den nationalen Klimazielen, der Umstellung auf erneuerbaren Strom und den bevorzugten Flexibilitätsoptionen manifestieren.
Flexibilitätsoptionen sind notwendig, um der Herausforderung der fluktuierenden erneuerbaren Energien zu begegnen: Damit die Stromversorgung jederzeit gewährleistet ist, braucht es einen Ausgleich von Stromerzeugung und -verbrauch. Möglichkeiten dafür sind zum Beispiel ein europäischer Stromhandel, der Aufbau von Speichern oder die Installation zusätzlicher regelbarer Erzeugungskapazitäten, etwa mit Biomasse oder solarthermischen Kraftwerken.
Starke Ziele, schwache Strategie
Über das politische Spektrum hinweg fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ähnliche Ambitionen bezüglich Dekarbonisierung und Ausbau der Erneuerbaren, sowohl bei politischen Parteien als auch bei Bürgerinnen und Bürgern. Entgegen ihren Erwartungen schlug sich die politische Ideologie also kaum in den klima- und energiepolitischen Präferenzen nieder. Alle Pfade sehen im Laufe der Zeit strengere Dekarbonisierungsziele vor: 75 bis 100 Prozent bis 2050 (im Vergleich zu 1990). Es gibt keinen großen, ideologisch begründeten Unterschied in den Ambitionen, obwohl die marktorientierten Pfade etwas niedrigere Ziele haben, nämlich 75 bis 80 Prozent Dekarbonisierung bis 2050, während die „grünen“ Pfade 85 bis 95 Prozent anstreben und die staatszentrierten Pfade mit 75 bis 100 Prozent Dekarbonisierung eine größere Bandbreite aufweisen.
Damit die Ziele auch umgesetzt werden können, muss die Politik allerdings nacharbeiten. „Parteien aller drei Ausrichtungen – grün, staatszentriert und marktzentriert – haben keinen auch nur annähernd klar definierten Masterplan für das künftige Stromsystem, das eine stabile und verlässliche Versorgung gewährleisten kann, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht“, resümiert Co-Autor Johan Lilliestam. „Klimaziele, die mit dem Übereinkommen von Paris kompatibel sind, verlangen nach einer Dekarbonisierung des Europäischen Stromsektors deutlich vor 2050. Um die Möglichkeit zu wahren, ein solches Ziel zu erreichen, müssen dringend Richtungsentscheidungen getroffen werden.“ Flexibilität sei für das Stromsystem der Zukunft ein wichtiges Thema, das mehr politische Aufmerksamkeit erfordere.
20.10.2020 | Quelle: IASS | solarserver.de © Solarthemen Media GmbH