Größtes Klimaschutzprogramm der Geschichte gefordert
Größtes Klimaschutzprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik gefordert. Und zwar von den Organisationen Agora Energiewende, Stiftung Klimaneutralität und Agora Verkehrswende. Hierfür legen sie 22 Handlungsempfehlungen mit schnell umsetzbaren Maßnahmen für die neue Legislaturperiode vor.
Die jüngsten Treibhausgas-Prognosen zeigen: Die Emissionen steigen 2021 wieder stark an und das Erreichen des 2020-Ziels von minus 40 Prozent gegenüber 1990 war nur ein Corona-Sondereffekt. Damit ist Deutschland weit davon entfernt, die im neuen Klimaschutzgesetz vereinbarten Ziele von mindestens 65 Prozent weniger Treibhausgasemissionen bis 2030 und Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen. Um diese Lücke zu schließen, gelte es künftig jährlich 30 bis 40 Millionen Tonnen CO₂ einzusparen. Der Trend der letzten Jahre war jedoch eine Minderung von etwa 14 Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr. Die nächste Bundesregierung wird daher ihre Klimaschutzanstrengungen gegenüber dem Status Quo etwa verdreifachen müssen.
Ersten 100 Tage entscheidend
„Deutschland braucht in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung das größte Klimaschutz-Programm in der Geschichte der Bundesrepublik. Erneuerbaren-Ausbau, Kohleausstieg, Effizienz, Elektrifizierung von Gebäude und Verkehr – überall ist eine Verdopplung bis Verdreifachung des Tempos angesagt.“ Das sagt Dr. Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende.
„Klimaneutralität 2045 und minus 65 Prozent Treibhausgase bis 2030 sind als Ziele parteiübergreifender Konsens.“ Das sagt Rainer Baake, Direktor der Stiftung Klimaneutralität. „Jetzt müssen schnell wirkende, ambitionierte Maßnahmen in allen Sektoren folgen. Ohne ein solches umfassendes Maßnahmenpaket kommen wir nicht auf den Zielpfad.“ Damit verfehle Deutschland Jahr für Jahr die im Klimaschutzgesetz festgelegten jährlichen Emissionsobergrenzen.
Christian Hochfeld, Direktor von Agora Verkehrswende: „Die neue Bundesregierung wird schnell zeigen müssen, dass sie die wesentlichen Lösungsansätze auf dem Weg zur Klimaneutralität im Verkehr im Blick hat und eine breite Mehrheit für die Transformation gewinnen kann. Genau darauf sind die von uns vorgeschlagenen Sofortmaßnahmen ausgerichtet.“
Änderungen sind schnell umsetzbar
Das Sofortprogramm, das die drei Organisationen vorlegen, enthält schnell umsetzbare Änderungen von Gesetzen und Verordnungen in allen Sektoren. Die 22 Eckpunkte sind neben übergreifenden Vorschlägen in die für den Klimaschutz relevanten fünf Schlüsselsektoren aufgegliedert. Das sind Strom, Verkehr, Industrie, Gebäude und Landwirtschaft. Die Vorschläge sind so konzipiert, dass das Kabinett sie sie in den ersten 100 Tagen beschließen kann. So könnten sie noch im Sommer 2022 in Kraft treten können.
Investitionen in den Klimaschutz auf den Weg bringen
„Die in diesem Sofortprogramm vorgelegten Instrumente setzen an den wichtigsten Stellschrauben zur Treibhausgasminderung an. Dazu gehören ein sinkender Strompreis bei steigenden CO₂-Preisen, umfassende Förderprogramme für Gebäudesanierung, Preisanreize für klimafreundlichen Verkehr, Landwirtschaft und Industrie, ein Abbau klimaschädlicher Subventionen und steuerliche Anreize. Eine Beschleunigung von Investitionen – besonders in den Ausbau Erneuerbarer Energien – und ordnungsrechtliche Standards ergänzen den klimapolitischen Instrumentenmix.“
Als übergreifende Maßnahme plädieren die drei Organisationen dafür, einen Klima-Haushalt aufzustellen, der jährlich zusätzlich mehr als 30 Milliarden Euro für Klimaschutzinvestitionen bereitstellt.
Verdreifachung von Strom aus Erneuerbaren Energien
Erneuerbarer Strom aus Windkraft- und Solaranlagen ist zentraler Baustein. „Die Menge an Strom aus Erneuerbaren Energien lässt sich nur verdreifachen, wenn Genehmigungsverfahren beschleunigt, die Akzeptanz für den Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen verbessert und die nötige Infrastruktur für den Stromtransport gebaut wird“, sagt Rainer Baake. Zudem muss der Ausstieg aus der Kohleverstromung bereits bis zum Jahr 2030 erfolgen. Neben dem EU-Emissionshandel solle ein nationaler CO₂-Mindestpreis diese Entwicklung absichern. Er soll 2025 bei 50 Euro starten und bis 2030 auf mindestens 65 Euro steigen.
Fiskalische Instrumente für die Verkehrswende
„Im Verkehr kommt es darauf an, von Anfang an die richtige Mischung aus Preissignalen und Ordnungsrecht zu finden“, betont Christian Hochfeld. „Anreize und Fördermittel für Elektromobilität und öffentlichen Verkehr allein werden nicht reichen. Auch der CO₂-Preis ist, wenn es um Kraftstoffe geht, kein Allheilmittel.“ Es gelte ihn klug mit anderen Instrumenten auf nationaler und europäischer Ebene zu kombinieren.
Das Sofortprogramm legt einen Schwerpunkt auf die Reform der fiskalischen Instrumente. Die Kfz-Steuer solle sich nur noch am CO₂-Ausstoß orientieren und sich zu einem Bonus-Malus-System weiterentwickeln. Die Besteuerung von Dienstwagen gelte es, ökologisch zu reformieren und die Privilegierung von Diesel zu beenden.
Damit der Umstieg auf Elektromobilität kontinuierlich vorangeht, setzt das Sofortprogramm außerdem auf einen Masterplan für den Ausbau der Ladeinfrastruktur. Im öffentlichen Verkehr solle ein eigenes Investitionsförderprogramm die Elektrifizierung beschleunigen. Außerdem gelte es, den Handlungsspielraum der Kommunen zu vergrößern.
Für den Bundesverkehrswegeplan sieht das Sofortprogramm einen Klimastresstest vor. Alle Projekte aus dem Bundesverkehrswegeplan müssen danach bewertet werden, ob sie mit den Klimaschutzzielen der Bundesregierung vereinbar sind. Im Güterverkehr plädieren die Klima-Thinktanks unter anderem für eine Ausweitung und stärkere CO₂-Orientierung der Lkw-Maut. Zudem soll Innovationskorridore für die drei aussichtsreichsten elektrischen Lkw-Technologien (Batterie, Oberleitung, Brennstoffzelle) geben.
Klimaneutrale Investitionen in der Industrie unterstützen
Um die erforderlichen Emissionsminderung in der Industrie bis 2030 zu erreichen, seien vor 2030 etwa die Hälfte der Anlagen in der Stahl-, Chemie- und Zementindustrie durch klimaneutrale Technologien zu ersetzen. Klimaneutrale Technologien in der Grundstoffindustrie sollen über Klimaschutzverträge gefördert werden. Dabei handele es sich um Carbon Contracts for Difference (CCfD), die die Differenzkosten zwischen der klimaneutralen Technologie und den am Markt erzielbaren Erlösen ausgleichen.
Wenn der Industriestandort Deutschland wettbewerbsfähig bleiben soll, müsse die Politik die Unternehmen jetzt im globalen Wettlauf um Klimaneutralität unterstützen. Dazu gehöre ein Gesetz, das klimaneutrale Investitionen in der Industrie sowie den Ausbau einer Infrastruktur für grünen Wasserstoff ermöglicht. Die drei Thinktanks plädieren für eine Wasserstoffstrategie 2.0, die den Fokus auf einen raschen Aufbau von Erzeugungskapazitäten sowie der Finanzierung und dem Aufbau eines Wasserstoff-Startnetzes legt.
Keine neuen Öl- und Gasheizungen mehr ab 2024
Der Gebäudesektor wird 2021 erneut seine Ziele verfehlen – entsprechend hoch ist hier der Bedarf an wirksamen Klimaschutz-Maßnahmen. „Der kommende Investitionszyklus ist entscheidend für die Wärmewende, denn Investitionen in Dämmung und Heizungen sind langlebig,“ sagt Patrick Graichen. „Um den Gebäudesektor schnell und sozialverträglich klimaneutral aufzustellen, ist es nötig, in den ersten 100 Tagen der neuen Legislaturperiode die gesamte Instrumentenpalette anzupassen – von einer Erhöhung und Neuausrichtung der Fördermittel über eine Anhebung der energetischen Standards bis hin zu einem sozial ausgewogenen Ausgleich der Kosten zwischen Mieter:innen und Vermieter:innen.“ Die drei Organisationen schlagen vor, ab 2024 keinen Einbau fossiler Heizungsanlagen mehr zu erlauben und für Neubauten und Dachsanierungen eine Solarpflicht einzuführen. Den klimaneutralen Neubau und die klimaneutrale Gebäudesanierung wollen die Klimaexperten jährlich mit zwölf Milliarden Euro fördern.
Mehr Tierwohl und gute Ernährung
Die Senkung der Treibhausgasemissionen in der Landwirtschaft muss vor allem in drei Handlungsfeldern erfolgen: die Reduktion des Fleischkonsums und anderer tierischer Produkte, damit einhergehend die Reduktion der Tierhaltung in Deutschland und die Verringerung der Nutzung mineralischer Düngemittel. Zukünftig solle gelten: weniger Tiere, mehr Tierwohl, stabile Einkommen, gute Ernährung.
Da landwirtschaftlich genutzte Moore für einen Großteil der Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft verantwortlich sind, fordern die drei Thinktanks die Entwicklung einer Moorschutzstrategie. Deren Ziel müsse die weitgehende Wiedervernässung bis 2045 sein, damit Moore von CO₂-Treibern zu CO₂-Senken werden.
30.8.2021 | Quelle: Agora Energiewende | solarserver.de © Solarthemen Media GmbH