Potenziale für die Wasserkraft
In Gießen konkretisieren sich die Pläne für eine neue Wasserkraftanlage an der Lahn. Hier ist das erste Motiv aber gar nicht in der Energiewende zu suchen. Gießen möchte zum Surfstandort werden und sich den Orten anschließen, wo das bereits möglich ist oder möglich gemacht werden soll. Das Stichwort dazu lautet stehende Welle, die das Surf-Feeling auch an Flüssen erlaubt.
Eine Gruppe Surfbegeisterter war auf die Stadt mit ihrer Idee zugegangen. Und sie haben den Bürgermeister Peter Neidel dafür begeistern können. Die Stadt gab eine Machbarkeitsstudie bei Prof. Markus Aufleger, dem Leiter des Arbeitsbereichs Wasserbau an der Universtität Innsbruck in Auftrag. Er ist gleichzeitig Geschäftsführer der Kölner Dreamwave GmbH, die stehende Wellen in Flüssen entwickelt und baut. Wie Aufleger gegenüber Energiekommune erläutert, gehe es immer auch darum, möglichst einen ökologischen Nutzen zu erzielen. Dabei spiele es auch eine Rolle, den Surfsport lokal vor Ort anbieten und so Verkehr vermeiden zu können. Außerdem ließen sich die Projekte mit ökologischen Verbesserungen verbinden.
Surfen plus Wasserkraft
In Gießen schlägt Aufleger vor, der stehenden Welle eine neue Wasserkraftanlage vorzulagern. Die könne auch dazu dienen, den Wasserfluss zu steuern. So erreiche man an diesem Standort einen doppelten Nutzen. Man müsse aber hinnehmen, dass beim Betrieb der stehenden Welle die Produktion von Strom aus Wasserkraft gedrosselt sei. Aufleger hält das Doppelprojekt aus Surfwelle und Wasserkraft in Gießen für sehr realistisch. Eine genauere Wirtschaftlichkeitsanalyse müsse aber erst noch erstellt werden. An Standorten, die nur eine stehende Welle umfassen, sei eine Finanzierung meist nur mit städtischen Mitteln und Sponsoring möglich.
Vorstellbar sind stehende Wellen nach Aussage von Aufleger häufig dort, wo es bereits Querverbaue in Flüssen gebe. Dabei dürften die Fallhöhen nicht zu groß sein. Sie sollten unter zwei Meter liegen.
Konjunktur nur für den Spaß?
Offenbar finden Wasserbauprojekte, die sich Freizeitangeboten zuwenden, derzeit Zuspruch. Wasserkraftanlagen, die CO2-freien Strom liefern, haben dagegen einen schweren Stand. Ihr Nutzen ist umstritten.
Christian Wolter vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) hat in einer Studie einen Bewertungsindex zum Sterberisiko von Fischen an Wasserkraftanlagen entwickelt. Sein Fazit: „Die rund 7000 Wasserkraftanlagen in Deutschland mit einer installierten Leistung von weniger als einem Megawatt produzierten nur etwa 14 Prozent des Gesamtstroms aus Wasserkraft von 17,5 Terrawattstunden pro Jahr im Jahr 2019. Ihr Beitrag zur Energiewende ist damit marginal, die von ihr verursachten Schäden in Gewässerökosystemen und an den Fischbeständen aber vergleichsweise hoch.” Diese Haltung bekräftigt er gegenüber Energiekommune. Und er stellt den Beitrag der kleinen Wasserkraftanlagen für die Energiewende in Frage. Denn diese seien häufig gar nicht grundlastfähig und liefen in wenig effizienter Teillast, weil die Wassermengen zu gering seien. Sollten Wasserkraftanlagen betrieben werden, so müsse eine größere Wassermenge für Fischtreppen abgezweigt werden.
Pro und contra Wasserkraft
Auf wenig Gegenliebe stößt Wolter mit dieser Forderung bei Helge Beyer, dem Geschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Wasserkraftwerke (BDW). In Hessen habe die Landesregierung vor vier Jahren einen Mindestwassererlass beschlossen, der zu restriktiv sei. Jetzt stünden viele Wasserkraftanlagen still. Diese werden nach Überzeugung von Beyer aber gebraucht, um Schwankungen bei Solar- und Windkraftwerken auszugleichen. Wichtig seien dabei im lokalen Zusammenhang auch die Nutzung kleinerer Wasserkraft-Potenziale. Die Durchgängigkeit an Flüssen sei auch mit Wasserkraftanlagen herzustellen, so Beyer. Letztlich sei das eine Kostenfrage. Der Wasserkraftvertreter fragt aber auch, ob die Durchgängigkeit überhaupt immer erforderlich sei.
Während Beyer meint, gerade die kleinen Anlagen könnten ökologische Auflagen am besten erfüllen, so sieht Wolter ein Potenzial für ökologische Verbesserungen eher bei größeren Anlagen ab mindestens 1 Megawatt.
Wehre sind ein Problem
Wolter räumt allerdings ein, dass die ökologischen Probleme in deutschen Flüssen nicht allein auf die Wasserkraft zurückzuführen seien. So gebe es in Deutschland allein 200.000 Wehre. Würde davon ein größerer Teil – wo möglich – zurückgebaut und ein kleinerer Teil der Standorte für Wasserkraftanlagen genutzt, so wäre das für die Gewässer schon eine Verbesserung.
Chancen, die ökologische Qualität bei Nutzung der Wasserkraft-Potenziale zu heben, sieht auch das europäische Forschungsprojekt FitHydro. Es lief von November 2016 bis April 2021 und wurde von Prof. Peter Rutschmann von der Technischen Universität München koordiniert. Leitgedanke des Projektes sei es, dass umweltfreundliche und nachhaltige Wasserkraft die Entwicklung gesunder Flüsse und sich selbst erhaltender Fisch- populationen unterstützen und andere erneuerbare Energiequellen ergänzen könne. Und dies zu erreichen, entwickelte das Forscherteam 20 Lösungen, Methoden, Instrumente und Geräte.
Wasserkraft-Potenziale im Einzelfall betrachten
Letztlich hängt es also gerade bei der Wasserkraft von Einzelfallbetrachtungen ab, die Ökologie und Wirtschaftlichkeit in den Blick nehmen müssen. Potenzial scheint es aber noch zu geben. So zeigt eine „Potenzialstudie über das theoretische und das technisch nutzbare Wasserkraftpotenzial der kleinen, mittleren und großen Wasserkraft in Niedersachsen“ der Technischen Universität Braunschweig vom Juli 2021, dass sich die derzeit im Land vorhandene Wasserkraftleistung von 77 auf bis zu rund 282 Megawatt steigern ließe. In den 1920er Jahren habe es wesentlich mehr Anlagen gegeben.
20.11.2021 | Autor: Andreas Witt
© Solarthemen Media GmbH
Dieser Artikel ist original in der Ausgabe 10/2021 der Zeitschrift Energiekommune erschienen. Energiekommune ist der Infodienst für die lokale Energiewende. Er erscheint monatlich. Bestellen Sie jetzt ein kostenloses Probeabonnement mit drei aktuellen Ausgaben!