Hans-Josef Vogel: Wenn nicht jetzt, wann dann? (Interview)

Portraitfoto von Regierungspräsident Hans-Josef VogelFoto: Bezirksregierung Arnsberg
Hans-Josef Vogel, CDU-Regierungspräsident im NRW-Bezirk Arnsberg, appelliert an Kommunen, ihre verfassungsrechtlich gebotenen Spielräume jetzt zu nutzen, um den Ausbau der Erneuerbaren zu beschleunigen.
Hans-Josef Vogel, CDU-Regierungspräsident des Bezirks Arnsberg in NRW, appelliert an kommunale Verantwortungsträger alle Ermessensspielräume zu nutzen, um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu forcieren. Der verfassungsrechtliche Paradigmenwechsel gebe ihnen dazu Möglichkeiten. Keine Genehmigungsbehörde dürfe die Hände in den Schoß legen, bis die bundespolitischen Gesetzesvorhaben über die Länder bis auf die kommunale Ebene heruntergebrochen seien.

Solarthemen: Was hat Sie motiviert, Anfang März per Brandbrief Land­räte und Bürgermeisterin­nen aufzufordern, alle Ermessensspielräume zum Ausbau erneuerbarer Energien zu nutzen?

Hans-Josef Vogel: Als ich den Brief an die Kommunen geschrieben habe, war für mich die schon absehbare Energiekrise durch den Angriff Russlands auf die Ukraine entscheidend. Außerdem sind die Folgen des Klimawandels auch bei uns immer greifbarer geworden. Wir müssen dafür und für unsere fatale Abhängigkeit von fossilen Energielieferungen bereits heute teuer bezahlen.

Was kann der Paradigmenwechsel, dass der Ausbau erneuerbarer Energien künftig laut EEG im „überragenden öffentlichen Interesse” liegt und der „öffentlichen Sicherheit“ dient, konkret in Verwaltungen bewirken?

Der Paradigmenwechsel ist im Kern verfassungsrechtlich getrieben, und zwar durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz. Dieses Urteil hat historische Qualität und ist für Verwaltungsjuristen sehr wichtig. Klimaschutz ist Staats­ziel, und Klimaschutz ist Grundrechtsschutz. Das bedeutet: Ein neues Klimaverwaltungsrecht entsteht. Konkret könnten wir nun warten, bis alle diese Gesetzgebungen vollendet sind. Der Bundesgesetzgeber hat jetzt damit angefangen. Dann wird es aber dauern, bis es auch in den Ländern und anschließend in den Kommunen umgesetzt ist. Meine These ist daher: Wir können schon unter dem heutigen Recht Entscheidungen treffen und wesentlich schneller werden.

Was können Sie als Regierungspräsident beitragen?

Für uns in der Bezirksregierung bedeutet dies, dass wir die Kommunalverwaltungen beraten. Denn die sind durch eine Überregulierung, aber teils auch durch eine Unterregulierung der erneuerbaren Energien herausgefordert. Es fehlt an Klarheit.
Der Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts hat nun unmittelbar Auswirkungen auf Planungs- und Genehmigungsverfahren. Denn bei den Abwägungsprozessen haben die Allgemeinwohlbelange durch dieses Urteil ein ganz neues Gewicht bekommen. Beim Ausbau der erneuerbaren Energien geht es jetzt schließlich um hohe Verfassungsgüter. Und durch die Verbindung der Energiekrise mit dem Krieg in der Ukraine entsteht ein neues Abwägungsgut, nämlich die öffentliche Sicherheit. Erneuerbare Energien sind Freiheits- beziehungsweise Sicherheitsenergien.
Das trifft oft auf eine Verwaltung, die bisher gewohnt ist in Ruhe abzuwägen. Jetzt sind aber diese Ermessens- und Abwägungsprozesse anders zu gestalten. Dazu braucht es Beratung.

Ein Beispiel bitte!

Wir haben heute viele Marktzutrittsbarrieren für die Erneuerbaren. Eine Kommune kam zum Beispiel auf uns zu, als es um Agri-PV auf einer Hühnerfarm ging. Was auch wir nicht wuss­ten: Es gibt eine EU-Verordnung zur Vermarktung von Hühnereiern. Bislang wurde daraus der Schluss gezogen, wenn „Freilandhaltung“ auf dem Eierkarton stehen soll, darf über den Hühnern keine Photovoltaik sein. Nun gibt es aber zum Beispiel mit vertikaler PV plötzlich ganz neue Technologien, die noch nicht bekannt waren, als diese Verordnung gemacht worden ist. Hier haben wir uns auf die Fahnen geschrieben, zu beraten und auch zu schauen, wie andere das Problem lösen.

Ein anderes Beispiel: Für die Sommerferien haben wir uns jetzt vorgenommen, eine GIS-gestützte Potenzialstudie für Freiflächen-Photovoltaik zu machen. Wir wollen wissen, was landespla­nerisch heute schon möglich ist, wie die Netzerschließung ist und was wirtschaftlich Sinn macht. Wenn wir die Potenzialanalyse haben, können wir den Kommunen ein aktives und zugleich gesichertes Beratungsangebot machen, wo und wie ihre Möglichkeiten sind.
Eine Reaktion auf meinen Brief war übrigens, dass sich viele Unternehmen aus der Region bei uns gemeldet ha­ben, die ihre Brennstoffversorgung umstellen oder sich mit erneuerbarem Strom versorgen wollen – teils große Unternehmen. Die kommen und fragen: „Herr Vogel, wir brauchen zwei Windräder; wie kriegen wir das planerisch kurzfristig hin?“ Dann müssen wir gegebenenfalls den Regionalplan anpassen, öffentliche und unternehmerische Planungen parallelisieren.

Verwaltungsleute sind vorsichtig. Sie prüfen lieber einmal mehr als einmal zu wenig. Kann sich das durch den Paradigmenwechsel ändern?

Wir haben Gott sei Dank eine rechtsstaatliche Verwaltung, die rechtssicher handeln will und muss. Beim bestehenden Rechtsrahmen habe ich aber durch die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die Realitäten neue Argumente. Und diese neuen Realitäten muss ich als Verwaltung bei meinen Planungs- und Genehmigungsprozessen berücksichtigen. Nehmen wir nochmal die Agri-PV: Als der Gesetzgeber die aktuellen planerischen Regeln aufgestellt hat, war Agri-PV noch nicht bekannt. Also muss die Verwaltung Gesetze auslegen. Wenn man Gesetze, wie wir Juristen sagen, verfassungskonform interpretieren muss, dann fühlt man sich unsicher, weil man zum ersten Mal neue Wege geht. Zukünftig werden diese Abwägungsprozesse wesentlich einfacher und schneller ablaufen, weil auf der einen Seite der Waage Allgemeinwohlbelange liegen, die von übergroßem, von verfassungsrechtlichem Gewicht sind.

Wie können Sie als Aufsichtsbehörde den Kommunen dabei eher helfen, indem Sie ihnen für die Interpretation der Gesetze klare Vorgaben machen oder indem Sie die Bürgermeister ermutigen, ihre Freiräume zu nutzen?

Vor allem letzteres, soweit die kommunale Selbstverwaltung berührt ist. In den Genehmigungsprozessen sind wir ja teils selbst als Naturschutz- oder Immissionsschutzbehörde beteiligt. Wir müssen die neuen juristischen Realitäten auch in unserem eigenen Handeln deutlich machen. Beispielsweise kann man heute schon auf Kalamitätsflächen im Wald, wo der Borkenkäfer gewütet hat, Windkraftflächen realisieren. Hier fließen unsere Stellungnahmen in die Entscheidungen der Kommunen ein. Wir weisen die Kommunen darauf hin und bestärken sie, bei der Genehmigung von Erneuerbare-Energien-Anlagen ihre Auslegungsmöglichkeiten im Sinne der neuen verfassungsrechtlichen Realitäten und im Sinne von Unabhängigkeit und Sicherheit der Energieversorgung wahrzunehmen.

Auf Bundesebene wird das Wind-an-Land-Gesetz demnächst in Kraft treten, in NRW stehen Regeländerungen nach dem Regierungswechsel erst noch an. Was können Sie und die Kommunen in so einer Phase konkret tun?

Wir sind jetzt in einer Phase des gebärenden Rechts. Dabei ist eine Kaskade zu berücksichtigen. Das Raumordnungsgesetz des Bundes und das Baugesetzbuch werden runtergebrochen auf die Landesentwicklungsplanung, dann auf die Regionalplanung und schließlich auf die kommunale Flächennutzungsplanung. Das dauert seine Zeit. In einem Rechtsstaat wird das ja nicht per Noterlass durchgesetzt. Und damit komme ich nochmal auf diesen Brief zurück: Wir dürfen das nicht abwarten und dabei die Hände in den Schoß legen. Nicht nur bei den Verwaltungen, auch gegenüber Investoren plädiere ich deshalb dafür, jetzt die Anträge zu stellen und nicht länger zu warten. Denn jetzt ist das Zeitfenster offen: Wir müssen jetzt die Energiekrise grundsätzlich lösen und den Klimaschutz verstärken.

Die Konflikte um die Windkraft, gerade bei Ihnen im Sauerland, sind aber über Jahre verhärtet. Was können Sie als RP tun, um diese Konflikte zu befrieden?

Wir sind schon dabei. Das Erste, was wir tun: Wir versuchen den künftigen Bedarf an Energien lokal und regional zu definieren. Dadurch schaffen wir Verständnis dafür, dass es um die Energieversorgung des eigenen Ortes, seiner Bürger, Betriebe und öffentlichen Einrichtungen geht. Wenn Unternehmen heute sagen, wir brauchen erneuerbare Energien, um unsere Arbeitsplätze zu erhalten und wettbewerbsfähig zu bleiben, dann muss man das in einer Stadt oder Gemeinde ernst nehmen. Wir wollen weg von pauschalen Betrachtungen wie dem 2-Prozent-Flächenziel. Stattdessen fragen wir, wie viel Energie braucht Ihr denn in eurer Kommune unter bestimmten Annahmen.

Das Zweite ist, wir müssen die Kommunikation verbessern und klar machen, dass Windräder und Solaranlagen zu unserem Leben gehören wie Mobilfunk- und Strommasten, Stra­ßen­beleuchtung und Bushaltestellen. So wie wir heute leben, brauchen wir erneuerbare Energien, sonst geht unser Leben eben nicht in dieser Form weiter. Das lernen wir ja gerade durch den Krieg.

Hätten Sie als CDU-Politiker vor zehn Jahren damit gerechnet, dass es mal eine schwarz-grüne Koalition in Düsseldorf geben würde? Erwarten Sie davon Rückenwind für Ihre Arbeit?

Ich hätte es mir manchmal schon früher gewünscht. Vor 30 Jahren habe ich den Bund der Energieversorger mitgegründet. Und damals war das schon der kleine Versuch, den gut und stark organisierten Interessen der Konzerne – Kurt Biedenkopf pflegte von den Besitzständen zu sprechen – etwas gegenüberzustellen. Diese Koalition kommt gerade rechtzeitig, um die Lösung der Klimakrise anzugehen. Wenn nicht jetzt, wann dann?

14.7.2022 | Interview: Guido Bröer
© Solarthemen Media GmbH

Hans-Josef Vogel ist seit 2017 Regierungspräsident des Bezirks Arnsberg, Nordrhein-Westfalen. Der Jurist war u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Biedenkopf, seit 1993 Stadtdirektor, seit 1999 Bürgermeister der Stadt Arnsberg. Er ist CDU-Mitglied. Im März, nach dem Überfall Russlands auf die Ukra­ine, appellierte Vogel in einem Brief an alle Bürgermeister:in­nen und Landrä­t:innen seines Bezirks, ihre Ermessensspielräume zu nutzen, um den Ausbau der Erneuerbaren zu forcieren.

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